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Archiv-Artikel

Die Kinder hauchen dem Ort Leben ein

Wie ist die Stimmung am Mahnmal für die ermordeten Juden Europas? Melancholisch, bisweilen. Aber, darf man das sagen? Es passiert auch Lustiges

AUS BERLIN WALTRAUD SCHWAB

Innerhalb weniger Stunden verändert das Holocaustmahnmal sein Gesicht. Morgens bei Regen ist es ein Friedhof. 2.711 namenlose Gräber stehen hier. Sie sind symmetrisch angeordnet, doch nichts ist im Lot. Schon am späten Vormittag, wenn Schulklassen das Mahnmal stürmen, wird der Ort indes zu einem Spielplatz. Sich verstecken, verloren gehen. So was in der Art. „Simon, wo bist du?“ Dass Kinder, die so heißen – David, Lea, Sarah –, sich im Labyrinth verlaufen und gerufen werden, gibt dem Denkmal überraschend einen verspielten doppelten Boden.

Es ist nicht alles: Schnell wird der Irrgarten aus dunklem, scharfkantigem Beton auch zum realen Hintergrund für Jugendliche, die Egoshooter als Zeitvertreib kennen. „Ich hab dich getroffen. Du bist tot“, ist die Stimme eines Jungen zu hören. Zu sehen ist er nicht. Dann taucht er geduckt hinter einem der meterhohen Quader auf. „Ey, du bist abgeschossen“, brüllt er. Eine Frau im orange Mantel ist entsetzt. Sie weist die Jugendlichen zurecht: „Dass ihr euch nicht benehmen könnt.“ Auf diese Weise wird das Mahnmal zum Spiegel.

Nachmittags bei unerwartetem Sonnenschein, der die Vielheit der rechteckigen Formen als Zackenschatten übereinander türmt, kommen die Akrobaten zum Zug. Sie springen von Stele zu Stele. Kaum ein Meter Abstand ist es von einer zur nächsten. Der Wachschutz ist alarmiert. „Bedenken Sie, wenn einer abstürzt. Fast fünf Meter hoch sind die höchsten Stelen in der inneren Tiefe des Mahnmals.“

Seit Donnerstag ist das Mahnmal in Berlin offen für Besucher. Die Regeln sind streng: Nicht klettern, nicht rauchen, nicht lärmen. Dabei wirkt es, als wären die schreienden Kinder und die Stelenkletterer Teil einer Inszenierung. Sie eignen sich an, was noch nicht angeeignet, noch nicht eingeordnet ist. Deshalb testen sie die Grenzen, die das Fremde, das Neue, setzt.

So oder so: Die Kinder machen den Ort lebendig und die niederen Quader am Rand laden zum Ausruhen ein. Ganz unglücklich wirkt der Sicherheitsmann nicht, wenn Regeln gebrochen werden. Das gibt ihm Lohn und Brot. Schmierereien hatten sie auch schon auf den Stelen, meint er.

Hakenkreuze?

Er nickt.

Später am Abend, wenn die Sonne untergeht, liegt plötzlich ein Zauber über dem Mahnmal. „Melancholie“, sagt einer, wie vorher andere „Betroffenheit“ sagten. Oder „Beklemmung“. Die von außen nur sanft ansteigenden Stelen, aus deren Tiefen die Köpfe der dazwischen herumwandernden Menschen langsam erscheinen, wirken im Gegenlicht wie eine antike Treppe, aus der Teile herausgebrochen sind. Noch keinen Tag ist das Mahnmal offen und trägt bereits die Last des Jahrhunderts.

Noch später aber, wenn es dunkel wird, ist der graue Beton sein eigener Schatten. Ein Schwarm Krähen fliegt darüber hinweg. Wie bestellt.

„Je größer die Stelen werden, desto kälter werden sie“, sagt eine Frau, „das macht mich klein und wirft mich zurück auf mich selbst.“ Sie schwankt über den unregelmäßigen Boden. „Dass man sich selbst noch im Grauen verstecken kann“, fängt sie den nächsten Satz an und beendet ihn nicht. Je vertrauter das Mahnmal wird, desto mehr entfaltet es seine Poesie. So vergeht der Tag.

Das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ wird eine Geschichte der Aneignung erleben. Die Passantinnen, Flaneure, Gäste werden herausfinden, was es bedeutet und warum es da steht. Noch allerdings besteht niemand auf der richtigen Antwort darauf, was es bedeutet. Vielmehr kommt der erste Eindruck als Kaskade von Eigenschaftswörtern daher: beklemmend, grandios, makaber, simpel, nichtssagend, wichtig, cool, fett, uralt, düster, genial, krass, tonnenschwer. Eine sagt: „Es macht betroffen. Ich kann aber nicht sagen, wie.“ Niemand sagt „schön“.

Das Herz der Leute

Ganze Sätze über das Mahnmal sagen die Leute erst, wenn sie wieder aufgetaucht sind aus der Tiefe. Dann stehen sie am Rand, dort wo der Blick offen ist, dort, wo der gezackte Beton sich wie versunkene Architektur an die Stämme der Bäume im Tiergartens schmiegt. „Mir kommt es wie ein futuristischer Meditationsgarten vor“, sagt ein Brandenburger. Er will einmal frühmorgens kommen in der Dämmerung. Ein freifahrender Vagabund meint: „Ey, das wird in 10.000 Jahren noch stehen.“ Wie die Menhire in Stonehenge. Eine Frau stellt ernüchtert fest, dass sie den Boden nicht unter den Füßen verloren habe. „Als Kunstwerk ist es interessant.“ Ihre Freundin: „In 500 Jahren wird sich die Bedeutung des Denkmals erst zeigen. Dass dieser Völkermord möglich war, das ist das Unglaubliche. Das, was man nicht verstehen kann. Man kann es auch nicht nachvollziehen.“ Und ein junger Mann mit schwäbischem Akzent und schwarzer Kippa auf dem Kopf ist gar nicht einverstanden mit dem Ganzen. „Hier wird Schlussstrichgeschichte zelebriert. Man sieht die Täter nicht.“

Ähnliche Kritik kommt von einer Historikerin nach dem Besuch des Dokumentationszentrums. Dort wird an einer Fülle von Einzelschicksalen das Unmenschliche des Genozids, den die Deutschen zu verantworten haben, deutlich gemacht. Während sich draußen der Straßenlärm und das Geschrei der Kinder verdichten, sind die Leute drinnen ganz still. „Das hier will betroffen machen“, kritisiert die Historikerin. „Damit erreicht man das Herz der Leute.“ Der größere Kontext, die Zusammenhänge, die die deutsche Geschichte unbequem machen, gingen verloren. „Die Nachfolgegenerationen werden sich auf die Opfer beziehen. Der Täterdiskurs geht verloren. Wie es mit der Topographie des Terrors aussieht, das ist eine andere Frage.“ Ganz anders ein 70-jähriger jüdischer Kanadier: Natürlich müsse man die Opfer in den Vordergrund stellen. „Sie sind nicht ohne den Rest der Geschichte zu denken. Sagen sie jemanden: Es wurden sechs Millionen jüdische Frauen, Männer und Kinder umgebracht. Da fragt der doch, von wem, wann und wieso?“

Am Morgen des nächsten Tages hat sich eine fast zärtliche Ruhe über das Mahnmal gelegt. Ein früher Besucher bezeichnet es als Amphitheater. „Die Geschichte, die dort gespielt wurde, ist zu Stein geworden.“ Durch die engen Schluchten zwischen den Stelen entfaltet sich im Morgenlicht das Spiel der Perspektive. Wer stehen bleibt und in die Sichtachsen blickt, sieht einzelne Menschen sich nähern oder entfernen und in den Kreuzungen tauchen überraschend immer wieder für Bruchteile von Sekunden Leute auf und verschwinden.

Manche ganz nah.

Manche fern.