Und dann Daniel

LUST Wie erkennen wir unser Begehren, und wie können wir es wirklich leben? Carolin Emckes persönlicher wie analytischer Essay „Wie wir begehren“ erzählt zu viel

Das Sprechen über Sex in den westlichen Gesellschaften ist aufgebläht

VON ANDREA ROEDIG

Vielleicht ist dies ein ärgerliches Buch. Vielleicht auch nicht. Es kommt auf die Perspektive an, wie bei jenem berühmten „Kippbild“, in dem sich, je nach Blickfokus, entweder ein Hase- oder ein Entenkopf zeigt. Carolin Emcke benutzt die Metapher des Kippbildes in ihrem Text, um für ein offenes Sehen zu plädieren. Immer gehe es darum, in einem scheinbar festgezurrten Bild auch etwas anderes zu erkennen, zum Beispiel in einer homosexuellen Person etwas anderes als den Homosexuellen.

Doch die Metapher passt auch auf Emckes Buch selbst, das man entweder als mutige Selbstoffenbarung der anerkannten politischen Journalistin lesen kann oder aber als ein zu pathetisch geratenes intellektuelles Exerzierstück.

„Wie wir begehren“ ist eine Art erotische Autobiografie. In ihr spürt Emcke, Jahrgang 1967, ihrer eigenen Pubertät nach und der Frage, wie sich ihre Lüste als „Halbreifling“ zu einem homosexuellen Begehren formen konnten, für das es damals keine Worte und kein vorgeprägtes Wissen gab. Emcke liebte den Wald, die klassische Musik und die dunklen Kneipen. Im Text verbindet sie die Beschreibung ihrer Jugenderfahrungen mit Beobachtungen von späteren Reportagereisen, beispielsweise nach Gaza, und mit Hinweisen auf politische Zeitgeschichte. Der Umgang mit Homosexuellen im Deutschland der 1970er und 1980er Jahre ist Thema, die Kießling-Affäre und die ersten politischen Reaktionen auf Aids.

Als eigentlicher Motor der Erzählung aber fungiert Daniel, ein Schulfreund, der früh Selbstmord beging, vielleicht weil er schwul war. Emcke beschreibt sich selbst immer im „Wir“ einer Gruppe, aus der Daniel als Einzelner zunehmend ausgeschlossen wurde, und sie inszeniert seinen Tod als immer wiederkehrendes Leitmotiv einer nicht abgetragenen Schuld. Was wäre gewesen, wenn? Wenn man ihn beschützt und integriert hätte, wenn es möglich gewesen wäre, über Homosexualität zu reden?

Die beiden zentralen Anliegen des Buches bündeln sich am Schluss in einer wilden und schönen Liebeserklärung an lesbische Lust als den Ausdruck größtmöglicher Freiheit von vorgefertigten Geschlechternormen.

Es geht Emcke in ihrem Plädoyer einerseits darum, das Begehren als flüssig, lebendig und wandelbar zu verstehen, und zugleich, die zerstörerische Macht des Verschweigens und der Lüge anzuprangern. „Vielleicht gehört das Erzählen so zum Leben wie das Schweigen zum Tod“, heißt es am Anfang des Buches. Genau in diesem Konzept liegt aber auch das Problem. Emcke redet sich und ihr Thema in eine ungut gespreizte Bedeutsamkeit hinein.

Einzelne der erzählenden Passagen sind exzellent und dicht. Doch insgesamt erstickt der Text in rhetorisch nachdenklichem Fragegewölk einerseits – „Was heißt denn schon ‚echt‘? Wie ‚echt‘ sind wir? Bin ich es?“ – und Ausbrüchen von fühlsamster Sinnlichkeit andererseits, die bis zur detaillierten Aufzählung von Konzert- und Tanztheaterinszenierungen führen, die das junge Ich damals so tief berührten. Für eine Autobiografie mag das angehen, in einer Reflexion auf Bedingungen homosexuellen Lebens wirkt es unangemessen.

Und dann Daniel. Emcke weiß nicht viel über ihn und sein Schicksal, sie kannte ihn nur flüchtig. Aber sie spricht im hohen Ton der Totenklage: „Das Erwachsenwerden hat Daniel gar nicht erlebt, da war er schon tot.“ Emcke sieht Sprache immer im Dienst der Aufklärung. Sie versteht sich als jene Zeugin, die den Unterdrückten, den Marginalisierten die Worte leiht. Dass sie diejenigen, für die sie spricht, notwendigerweise auch benutzt – nämlich für das eigene Sprechen –, scheint Emcke nicht weiter zu stören. Es stört aber, dass Daniel nicht nur das beklagte Opfer ist, sondern auch das gut geölte Rädchen, das Emckes Buch am Laufen hält und ihm die hehre Legitimation verleiht.

Interessanterweise erlaubt ein Kippbild nie, beide Perspektiven gleichzeitig zu sehen. Man kann „Wie wir begehren“ auf zwei Arten lesen. Es ist ein Buch, das homosexuellem Begehren eine reflektierte Sprache gibt. Es ist aber auch ein Buch, das den Diskurs und damit sich selbst zu ernst nimmt.

Sicher, wir müssen reden. Doch das Sprechen über Sex ist in den westlichen Gesellschaften mittlerweile derartig aufgebläht, dass man sich auch fragen sollte, wie viel vom Schmerz und vom Zauber des Verschwiegenen der selbstverliebten Aufklärung geopfert werden muss.

Carolin Emcke: „Wie wir begehren“. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2012, 256 Seiten, 19,99 Euro