Michail der Abtrünnige

Nach dem ersten Tag der Urteilsverlesung deutet viel darauf hin, dass Chodorkowski nach Sibirien verschwindet

„Michail der Große“ – so nennen ihn Freunde – hatte es gewagt, politische Ambitionen anzumelden

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

„Niemand ist vor Armut und Gefängnis sicher“, lautet eine alte russische Volksweisheit. Zwar wird das Ende der Urteilsverkündung vor dem Moskauer Meschtschanski-Gericht für den russischen Oligarchen Michail Chodorkowski erst für morgen erwartet. Und erst dann wird der Angeklagte das Strafmaß hören. Aber alle Zeichen deuten darauf hin, dass der ehemalige Chef des größten russischen Ölkonzerns Yukos eine Menge Zeit haben wird, über russische Weisheiten in den sibirischen Weiten hinter Stacheldraht nachzusinnen.

Zehn Jahre Lagerhaft forderte die Staatsanwaltschaft für den 41-Jährigen, dem Betrug in besonders schweren Fällen und Steuerhinterziehung zur Last gelegt werden. In vier von sieben Anklagepunkte befand das Gericht den Angeklagten gestern bereits für schuldig.

Seit Beginn der Yukos-Affäre vor zwei Jahren hat der Fiskus 21 Milliarden Euro Steuernachzahlung aus der Konzernkasse und 250 Millionen Euro aus der Privatschatulle des ehemaligen Ölmagnaten gefordert. Drei Tage vor Urteilsverkündung brachte die russische Staatsanwaltschaft nochmals neue Forderungen gegen Chodorkowski und den Mitangeklagten Platon Lebedew vor, die zwischen 2000 und 2003 6 Milliarden Dollar illegal außer Landes geschafft haben sollen. Michail Chodorkowski wies die Vorwürfe zurück.

Prozessbeobachter vermuten, die neuen Vorwürfe sollten der Kritik an dem Richterspruch vorbeugen, die vor allem aus dem Westen zu erwarten ist: „Die Regierung versucht, Chodorkowski und Yukos so hinzustellen, als seien sie die russische Version von Enron, um Kritik von außen abzuschwächen“, meinte der Chefstratege der russischen Alfa-Bank, Chris Weafer, gegenüber der Moscow Times.

390 Aktenbände sind seit Eröffnung des Verfahrens im Juni 2004 zusammengetragen worden. Die Mehrheit der Prozessbeobachter ist sich indessen einig: Schlüssige Beweise für Betrug und Steuerhinterziehung konnten die Ermittler nicht vorlegen. Auch der Europarat hatte seine Zweifel an dem Verfahren und stufte bereits im vergangenen Herbst den Fall Yukos als politisch motiviert ein.

Endgültig soll Michail Chodorkowski es sich mit der Moskauer Führung im Februar vor zwei Jahren verscherzt haben. So will es zumindest die Legende. Damals erinnerte der Oligarch auf einer Versammlung der führenden Wirtschaftsmagnaten im Kreml Präsident Wladimir Putin an die Korruptheit seiner Beamtenschar. Die würde immer gefräßiger, behauptete der Milliardär, obwohl Putin bei Amtsantritt 2000 doch versprochen hatte, der Korruption den Garaus zu machen und der „Diktatur des Gesetzes“ zum Sieg zu verhelfen. Im Sommer 2003 war es dann so weit. Der Kreml zerrte den nach Meinung westlicher Manager vorbildlich geführten Konzern wegen massiver Steuerhinterziehung vor den Kadi. Hinter der Attacke steckte aber auch damals schon mehr. „Michail der Große“, so nennen ihn seine Freunde, der Gründer und Mitaktionär von Yukos, hatte es gewagt, eigene politische Ambitionen anzumelden und gesellschaftliche Kräfte zu fördern, die den Führungsanspruch des Kreml nicht widerspruchslos hinnehmen wollten.

Chodorkowski unterstützte liberale demokratische Parteien und ließ auch den Kommunisten etwas zukommen. Vor allem schuf er aber ein Netz zivilgesellschaftlicher Einrichtungen, die einen Mentalitätswechsel in der jungen Generation einleiten sollten. Mit der Gründung des Fonds „Offenes Russland“ trat er überdies in die Fußstapfen des US-Milliardärs George Soros, der sich mit seiner „Offenen Gesellschaft“ aus Russland zurückziehen wollte. Ende Oktober 2003 wurde Chodorkowski dann in Sibirien bei einer Zwischenlandung mit seiner Privatmaschine in Nowosibirsk überraschend festgenommen.

Dass Chodorkowski in den 90er-Jahren auf fragwürdige Weise zu Reichtum gelangt war, steht außer Frage. Es war die Ära der so genannten Oligarchen, in der Politik und Geschäft, Kreml und Kapital eng miteinander verquickt waren. Nur so konnten sich die Oligarchen in der Privatisierungsphase die Filetstücke der russischen Wirtschaft unter den Nagel reißen. Chodorkowskis Methoden unterschieden sich nicht von denen anderer Räuberbarone, der damals 31-Jährige war nur besonders erfolgreich.

Das erste Geld machte der ehemalige Funktionär des kommunistischen Jugendverbandes „Komsomol“ mit dem Import von Computern. 1995 erwarb er dann für 309 Millionen US-Dollar den staatlichen Erdölkonzern Yukos, der in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckte und seinen Arbeitern monatelang keine Löhne auszahlte. Das Geld besorgte sich Chodorkowski beim Staat. Das Geschäft lohnte sich, denn das Unternehmen saß in Sibirien auf Erdölvorkommen, die heute 20 Milliarden Euro wert sind. Westliches Management und Know-how katapultierten den Konzern an die Weltspitze der Ölproduzenten und machten Yukos zu einem Vorzeigeunternehmen, das jede fünfte Tonne russischen Erdöls förderte und über 100.000 Mitarbeiter beschäftigte.

Missfallen erregten im Kreml auch die Überlegungen der Konzernspitze, den Ölgiganten an einen US-Konzern zu verkaufen. Dies war für Ende 2007 geplant. Exxon Mobil hatte bereits Interesse angemeldet. Aber dies widersprach den Zielen des russischen Machtzentrums, das in absehbarer Zeit wieder über alle Ressourcen im Energiesektor und in „Schlüsselindustrien von nationalem Interesse“ allein verfügen möchte. Dabei gilt das Augenmerk des Kreml – neben der Rohstoffbranche – den Bereichen der Telekommunikation und des Transports. Ein Gesetz ist in Vorbereitung, das in strategischen Sektoren eine Beteiligung ausländischen Kapitals unterbindet.

Nach zwei Jahren juristischer Auseinandersetzung ist Yukos inzwischen zerschlagen. Mit der Yukos-Tochtergesellschaft Juganskneftegas fiel das Kerngeschäft dem bislang kleinen Staatskonzern Rosneft zu. Auch dahinter steckt nicht nur eine strategische Entscheidung, die die nationalen Interessen im Auge hat. Rosneft wird von engen Vertrauten aus der Präsidialverwaltung gemanagt. Igor Setschin und Sergej Bogdantschikow kommen wie Putin aus dem Geheimdienst KGB.

Im Fall Chodorkowski sollte „ein Exempel statuiert werden“, bekannte der Kreml-Berater Igor Schuwalow freimütig. Er verschwieg aber, warum. War die Affäre als Warnschuss für die anderen Oligarchen gedacht?

Die Yukos-Affäre hat eine zweite Welle der Umverteilung in Russland ausgelöst, die an Brutalität der der 90er-Jahre in nichts nachsteht. Das Beispiel hat vor allem in den Provinzen Schule gemacht, wo Auftragsmorde an Unternehmern wieder an der Tageordnung sind. Die Lokalfürsten setzen auch dort die Steuerfahndung ein, um lukrative Unternehmen an sich zu reißen. Unter der Ägide Wladimir Putins hat die Korruption der Staatsbürokratie ein selbst für Russland bislang ungekanntes Ausmaß erreicht.

Er werde nicht mehr als Unternehmer, sondern zum Wohle seines Landes arbeiten, meinte Chodorkowski im April während seines Schlussworts vor Gericht. Das klang wie eine Drohung. Russlands politische Führung wird dies nicht zulassen, denn dann stünde sie eines Tages vor Gericht.