Noch immer diese Kälte

BLICK NACH OSTEN Als das sowjetische Imperium zerfiel, war das Interesse am Osten groß, heute sieht kaum einer mehr hin. Die Ausstellung „Bewegte Zeit, erzählte Zeit“ in der Akademie der Künste zeichnet ein dunkles Bild

Ramishvili zeigt, wie politische Ereignisse mit Stimmungen besetzt werden, um sie erinnerbar zu machen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Eisschollen! Hart, kantig, hell glänzend in der Sonne, kalt. Bis zum Horizont füllen die zerbrochenen Platten drei von vier Fotografien in Shailo Djekshenbaevs Arbeit „Perestroika, 2004“, aber erst im vierten Bild sieht man, dass die Schollen aus Asphalt sind, eine aufgebrochene Straße vor einem Lenindenkmal. Die Menschen, die sie überqueren, wollen also eigentlich bloß über die Straße und sehen doch aus, als müssten sie über einen Fluss, ohne Schutz vor den Launen der Elemente.

Aus einer banalen Situation die Möglichkeiten ihres metaphorischen Mehrwerts herauszukitzeln – das ist es, was vielen der Fotografen und Videokünstler der Ausstellung „Bewegte Zeit – Erzählte Zeit“ in der Akademie der Künste gemeinsam ist. Sie stammen aus Russland, der Ukraine, Belarus, Georgien, Kasachstan, Kirgisien, Usebekistan und Deutschland. Zusammengestellt hat sie Jule Reuter im Auftrag des Goethe-Instituts: Anlass ist der Mauerfall in Deutschland vor zwanzig Jahren und die Frage nach der Wahrnehmung dieser Epoche heute. Die Konzentration auf die Staaten, die aus der ehemaligen Sowjetunion hervorgingen, ist dabei auch die Entscheidung für ein Gebiet, dessen Kulturen in unserer westlichen Wahrnehmung seitdem an Aufmerksamkeit verloren haben. Politische und ökonomische Konflikte um Autonomie und Macht haben wenig übrig gelassen von der Neugierde, mit der die Künstler der jungen Staaten Anfang der Neunzigerjahre beachtet wurden.

Melancholischer Befund

Als Koka Ramishvili 1991 mit einer Einzelausstellung im Haus der Kulturen der Welt auftrat, mit Installationen aus militärgrüner Leinwand, zu Buchstaben zerschnitten, war dies wie die Öffnung eines Fensters nach Georgien und seinen neuen Hoffnungen. Schon damals beschäftigten ihn die Insignien staatlicher und wirtschaftlicher Macht, während sein Formenvokabular minimalistisch und konzeptuell war. Eine Zeit lang war er an vielen Biennalen und Ausstellungen beteiligt, die den Osten als neues und aufregendes Gebiet entdeckten. Dass daraus wieder ein Vergessen und kaum noch Kennen der Künstler aus diesen Ländern geworden ist, gehört mit zu dem melancholischen Befund von „Bewegte Zeit, erzählte Zeit“.

Ramishvili ist mit einer einzigen Videoarbeit vertreten, „Change“ von 2005. Man sieht, sehr verlangsamt, in einen Raum voller Männer, ein Parlament vermutlich, in das sich eine unheilvolle Unruhe schleicht, eine Ballung von Körpern, ein aggressives Handgemenge, einer wird abgeführt. Die Geräusche auf der verlangsamten Tonspur nehmen sich wie die von wilden Tieren aus. Die Bilder, dokumentarisches Material vom Rücktritt des georgischen Präsidenten Eduard Schewardnadse 2003, gehen über in Filmbilder von Rainer Werner Fassbinders Film „Die Sehnsucht der Veronika Voss“, ein melancholisches Szenario voller Glamour, böser Blicke und Verdachtsmomente. Beide Szenen sind kurz und emotional aufgeladen, beide behandeln Erinnerungen, sie sind aber auch völlig gegensätzlich in ihrem dokumentarischen und fiktiven Charakter. Ramishvili erzählt damit etwa davon, wie politische Ereignisse mit Gefühlen und Stimmungen besetzt werden, um sie erinnerbar zu machen. Das ist bewusst eine andere Setzung, als Verständnis oder Analyse zu behaupten.

Ermordete Kinder

Um Erinnerung als einen politischen Akt, der im Privaten nur stattfindet, weil er aus der Öffentlichkeit verdrängt wird, geht es auch der georgischen Fotografin Irina Abzhandadze. Ihre Serie „Opfer“ zeigt Interieurs, altmodisch, gepflegt, großbürgerlich, mit geblümten Tapeten, Pianos und Porzellannippes. In jedem dieser Räume hängt ein großes Porträtfoto, meist von Frauen und Männern, die viel jünger sind als die Möbel der Zimmer. Sie alle wurden von georgischen Familien in Erinnerung an ermordete Söhne und Töchter aufgehängt. Dass die Morde meist nicht untersucht, niemand verfolgt oder angeklagt wurde, war ein Motiv für die Fotografin, die selbst eine Freundin durch ein Verbrechen verloren hatte. Ihre Serie ist eine Anklage des Versagens des Rechtssystems. Vor allem aber ist sie ein Projekt der Empathie, das gerade durch seinen so zurückhaltenden und unaufgeregten Duktus berührt.

Von Viktor Marushenko aus der Ukraine stammt ein Fotoessay über die beinahe mittelalterliche Kohleförderung im Donezbecken in den Farben des Winters und der Frühe, von Viktor An aus Taschkent sind die grauen Panoramalandschaften der sterbenden Orte und versteppenden Ufer am Aralsee zu sehen. Die ausgewählten Werkausschnitte wecken oft den Hunger nach mehr; dagegen hätte man auf einige der künstlerischen Positionen, die mit Familienbildern umgehen, um sich der Erfahrung von Zeit im Wechsel der Generationen zu stellen, verzichten können. Sie sind teilweise etwas sehr wehmütig geraten, wie die von Vladimir Kuprijanov auf gläserne Träger gedruckten Erinnerungsbilder. Andere Strategien, Verdrängen und Vergessen zu thematisieren, leuchten da mehr ein. Wie die verrückte Performance von Oksana Shatalova in dem Video „Konservierung“. Sie steht in einer Fensteröffnung, ein alter Schlager wird gesungen, während Steinreihe nach Steinreihe das Fenster zugemauert wird. Am Ende ist das Gebäude gegen den Verfall gesichert, aber leben kann man dort nicht mehr.

■ Akademie der Künste am Hanseatenweg 10, Di.–So 11–20 Uhr, bis 13. September