Helferin aus Leidenschaft in Geiselhaft

„Was mich dazu gebracht hat, diesen Job zu machen? Na ja, Büroarbeit ist einfach nicht meine Sache, und wenn ich schon jeden Tag acht bis zehn Stunden arbeiten muss, um mein Brot zu verdienen, dann tue ich das lieber mit einer Aktivität, die meine Leidenschaft entfacht.“ Clementina Cantoni, die 32-jährige Mailänderin, die Montag in Kabul entführt wurde, hätte in der Tat alle Chancen für eine recht bequeme Karriere gehabt: In Großbritannien aufgewachsen, hatte sie dort an der London School of Economics Kommunikationswissenschaften studiert. Doch sofort folgte sie ihrer „Leidenschaft“, heuerte 1997 erst bei einem Hilfsprojekt in Bulgarien an, ging anschließend ins Kosovo, und Anfang 2002 nach Kabul.

Dort leitete sie für die kanadische Sektion von Care International ein Hilfsprojekt für Witwen. Cantoni kümmerte sich um die Lebensmittelversorgung für 6.000 Frauen, die wiederum weitere 60.000 Familienangehörige zu ernähren haben, sowie darum, den Witwen eine Erwerbsgrundlage zu organisieren. Gestern demonstrierten hunderte Frauen in Kabul für Cantonis Freilassung.

Alle Fotos zeigen eine entspannt lächelnde, freundliche junge Frau, die den Schleier recht lose auf dem Kopf trägt. Immer zu Scherzen aufgelegt sei sie, sagen Freunde und Kolleginnen. Vorneweg scherzte sie gern über ihren Namen. „Clementina (die Milde, die Nachsichtige), dieser Name wird mir absolut nicht gerecht. Ich bin nicht nachsichtig, vor allem nicht mit den Männern und den Chauvis dieses Landes“, sagte sie über sich selbst. Zu spüren bekam das auch Planungsminister Ramasan Bachardust. Als der vorigen Herbst verkündete, Angriffe auf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen seien „unvermeidlich“, weil die Afghanen überzeugt seien, „dass die NGOs die Gelder einstreichen, die für die Bevölkerung bestimmt sind“, antwortete Cantoni öffentlich. Enttäuscht sei sie, „weniger um unser selbst willen als für das afghanische Volk, das von solchen Leuten regiert wird“.

Cantoni ist gewiss nicht nachsichtig, doch sicher umsichtig. Sie habe sich nie allein in Kabul bewegt, und auch Montagabend war sie mit zwei Begleitern unterwegs, sagen Bekannte. Hinter der Entführung, die Cantoni zwei Wochen vor dem Ende ihres Afghanistaneinsatzes traf, steckt nach Polizeiangaben eine Bande, die ihren Chef im Austausch freipressen will. MICHAEL BRAUN