Süßstoff bekommt Konkurrenz

Die südamerikanische Stevia-Pflanze wächst auch auf deutschen Äckern, ist kalorienfrei und 300 mal süßer als Zucker. Süßstoff-Hersteller fürchten Konkurrenz – denn das Wunderkraut steht in Deutschland kurz vor seiner Zulassung

Die Substanz, die Süßstofffirmen auf die Barrikaden treibt, ist 300 mal süßer als Zucker. Sie hat keine Kalorien, soll die Entstehung von Zahnbelag verhindern und bei regelmäßigem Verzehr den Blutdruck senken. Der Wunderstoff heißt Steviosid und steht auch in Deutschland kurz vor der Zulassung als Nahrungsergänzungsmittel. Steviosid kommt in hohen Konzentrationen in den Blättern der lateinamerikanischen Stevia-Pflanze vor. Wissenschaftler der Universität Bonn haben nun festgestellt, dass das Süßstoff-Kraut auch problemlos auf heimischen Böden gedeiht.

Steviosid ist gefährlich. So sehen es zumindest die Hersteller von synthetischen Süßstoffen. In zahllosen Versuchsreihen versuchten sie zu beweisen, dass von dem süßen Hauptinhaltsstoff der Stevia-Pflanze ein Gesundheitsrisiko ausgeht. Und tatsächlich: Zumindest in einer Studie aus dem Jahr 1999 schien Steviosid die Fruchtbarkeit von Ratten zu beeinträchtigen. „Allerdings erst in absurd hohen Dosen“, so der Bonner Privatdozent Dr. Ralf Pude vom Institut für Gartenbauwissenschaft, „ein Erwachsener müsste täglich mehr als die Hälfte seines Körpergewichts an frischen Stevia-Blättern zu sich nehmen, um auf vergleichbare Konzentrationen zu kommen – in dieser Menge wäre selbst Zucker gefährlich.“

Realistisch sind derartige Dosen nicht. Wollte man die rund 130 Gramm Zucker, die der Durchschnittsdeutsche täglich mit der Nahrung aufnimmt, komplett durch das 300 mal süßere Steviosid ersetzen, käme man auf weniger als ein halbes Gramm – ein Stückchen Würfelzucker wiegt sechsmal so viel. Dass von diesen Mengen keine Gefahr ausgeht, wird im Sommer vermutlich auch die Europäische Union anerkennen, glauben die Bonner Forscher. Dann soll die Substanz als Nahrungsergänzungsmittel zugelassen werden. Gut dokumentiert sind die positiven Effekte von Steviosid. So senkt es bei regelmäßiger Aufnahme den Blutdruck, verhindert die Entstehung von Zahnbelag. Und es macht nicht dick.

Auch die Langzeiterfahrungen sind gut. Japans Köche verleihen ihren Gerichten schon seit 25 Jahren mit Stevia-Extrakt die rechte Süße, in Paraguay „zuckerten“ Indianer damit bereits vor einem halben Jahrtausend ihren Mate-Tee – offenbar ohne negative Folgen. Für die Hersteller synthetischer Süßstoffe ist die lateinamerikanische Wunderpflanze daher tatsächlich eine Bedrohung. Wie sehr sie den Zuckermarkt aufmischen kann, zeigen Erfahrungen aus Asien, wo Steviosid schon einen Marktanteil von 75 Prozent hat. „Dort sind aber auch einige seiner Hauptkonkurrenten verboten“, gibt Pude zu bedenken. In Deutschland könnte das Süßstoff-Kraut bald einen ähnlichen Siegeszug antreten – zumal der Agrarwissenschaftler zeigen konnte, dass sich Stevia rebaudiana auch auf hiesigen Äckern wohl fühlt.

Allerdings erfriert die aus Paraguay stammende Arzneipflanze bei Minusgraden und muss daher jedes Jahr neu gepflanzt werden. „In ihrer Heimat lässt sie sich mehrere Jahre hintereinander ernten“, so der Wissenschaftler, der nun kälteresistentere Arten selektieren möchte. Eine neue Mikrokulturtechnik soll zudem die Vermehrung des „Süßstoff-Krauts“ vereinfachen. Das Steviosid sitzt in den Blättern der Pflanze. Diese werden getrocknet und zu einem grünen Pulver zermahlen, das sich prinzipiell schon zum Süßen eignet. Damit der Kuchen nicht in einem unappetitlichen Grün schimmert, entfernt man aber in der Regel zuvor noch die Blattfarbstoffe. Dadurch verbessert sich auch der Geschmack, der dann kaum noch von dem von Zucker zu unterscheiden ist.

Bei seinen Versuchen auf der Lehr- und Forschungsstation Klein-Altendorf der Universität Bonn machte Dr. Pude noch eine interessante Entdeckung. „Auf den Feldern wuchsen zwischen den normalen Stevia-Pflanzen auch welche, deren Blätter ein wenig anders gefärbt waren“, sagt er. „Und die waren sogar noch süßer als die Ursprungspflanzen.“ HOLGER ELFES