Mitgefühl wird zu Protest

MAHNWACHEN Nicht Ideologie, sondern Empathie holt Leute neuerdings auf die Straße

VON JAN FEDDERSEN

Vor zwei Wochen tötete ein Attentäter in Tel Aviv zwei Gäste eines lesbisch-schwulen Jugendklubs. Das vermutete Motiv: Hass auf Homosexuelle. Die Getöteten gehören zu einer Opfergruppe, die an der östlichen Mittelmeerküste Israels ein Leben leben, das weder in einer der umliegenden arabischen Regionen möglich wäre noch im orthodox-jüdisch dominierten Jerusalem.

Die Tragödie um den Tod der zwei jungen Erwachsenen führte weltweit zu einer Anteilnahme mit den Opfern. In Berlin fand jüngst dazu vor der israelischen Botschaft eine Protestveranstaltung statt, die die vermutet homophobe Grundlage der Tat zum Thema hatte – nicht jedoch den eventuell religiösen Hintergrund des Mordenden. Mehrere hundert kamen in Berlin zu diesem Termin zusammen, und es fragt sich, was sie eint: die Tragödie der Tat selbst, die Liebe zu Tel Aviv oder pure Neugier.

Schockstarre

Wahr ist zunächst, dass zu diesem Attentat von Tel Aviv weltweit an mehreren Orten emotional anspruchsvolle Veranstaltungen stattfanden, darunter in Montréal, in New York City, in Paris wie in London. Auch dort standen nicht Israel, der Nahe Osten oder das Jüdische auf der Agenda, sondern, offenbar, die Tat und ihre Opfer.

Das aber verweist auf die Protestform – falls dieser Begriff überhaupt noch triftig sein kann – und ihr Objekt: In Mahnwachen kulminiert aktuell ein Relaunch der Aufmerksamkeits- und Fingerzeigkultur auf Menschen. Alle Arten des Protests der Achtziger bis Neunziger sind dagegen passé. Und das waren: Schlotbesteigungen (gegen Verschmutzung der Umwelt), Straßenblockaden (dem Strahlenmüll keine Durchfahrt), Firmenbesetzungen (Wir bestimmen selbst). Auch gestrig sind allgemeine Appelle an das Wünschbare. Dass der Wald nicht sterben möge, die Wale in Ruhe gelassen werden, die Bäche klar und rein fließen, nicht brühig und giftbelastet. Mit objektbezogenen Anlässen des Anstoßes lockt man niemanden mehr hinterm Ofen hervor. Klima, Gift, Tiersterben – alles ist an Ausschüsse delegiert oder an Parlamente. Und wer trotzdem noch mosert und mäkelt, schreibt per Internetformular eine juristisch perfekt verfasste Petition.

Nein, der moderne Protest, die zeitgenössische Klage gegen das schlechte Hier und Jetzt widmet sich stets humanitären Katastrophen und fatalen Umständen, in die Menschen geraten – und diese müssen konkret sein, fühlbar, sichtbar, hörbar. Karitative Organisationen, immer auf der Suche nach unserem Besten, dem Geld, wissen das seit Langem. Spenden für in Afrika angesiedelte Projekte kommen am ehesten, wenn überhaupt, wenn ein Reklamespot mit einem treuherzigen, dennoch weltzugewandten Gesicht illustriert wird. Eine Fotografie aus dem realen Flüchtlingsleben reicht nicht: zu realistisch, zu schmutzig, zu gewöhnlich.

Trauerbilder

Neu ist, dass beispielsweise die Lage von Frauen im Iran, von Homosexuellen in Uganda oder von schockstarren SchülerInnen in unseren Gefilden dann diskursfähig ist, bieten sie ein Gesicht, ja, haben sie auf sich aufmerksam zu machen in der Form von Ermordeten. Dann bilden sich keineswegs spontan, sondern eher automatisch an den Orten des Protests Mahnwachen, werden Friedhofskerzen dort entzündet, die Plätze mit Blumen versehen, als ginge es um eine Beerdigung. Protest, so gesehen, funktioniert nur mit Handlungen, die mit Betroffenheit oder Mitgefühl belegbar sind. Gefühle, die auf Identifikation setzen und zu diesem emotionalen Akt auch andere mit einladen möchten. Und wer möchte sich schon hartherzig geben?

Als vor etlichen Jahren an einem Erfurter Gymnasium ein von dort wegen angeblich nicht erbrachter Leistungen geworfener Schüler Amok lief und mehrere Menschen erschoss, war dieses neue Anteilnahmesetting besonders gut zu studieren: Auf der Treppe der Schule wurden Blumen zu einem Teppich verlegt, dazwischen Kerzen, des Nachts funkelte es matt und schön. SchülerInnen, die dort vor Kameras Platz nahmen, hielten sich an den Händen, gern waren es Mädchen, die ihre Köpfe auf die Schulter einer Sitznachbarin legten wie zur still weinenden Geste.

Öffentliches Beileid

In Erfurt manifestierte sich fast eine erste Klimax des neuen Protests: ein Protest gegen Gewalt überhaupt, gegen den Schock des Tötens, gegen die rüde Art wahrscheinlich, mit der sich der Täter jedweder Vernunft entzog und einfach, in seinem Sinne, handelte und Menschen an seiner ehemaligen Schule erschoss. So war spürbar, was Kummer machte: eben kein anonymer Schornstein, der dampft und dumpft, sondern ein Mensch, der anderen Menschen etwas antat. EineR wie du und ich – das Böse, das Menschen zu Opfern macht, das Kummer bereitet und Tränen gebiert. Hinter sich lassend: Überlebende, Traumatisierte – zwei Vokabeln im Übrigen, die zur philologischen Standardausrüstung des modernen Protests zählen.

Die Mahnwache für die Opfer des Anschlags von Tel Aviv war in diesem Sinne ein notwendiger Akt der globalen Einfühlung. Nicht mehr, nicht weniger – ein Protest schließlich, der kein Gegenüber kennt. Man beweint die Opfer und gewiss ein wenig auch sich selbst.