Polizei im Vorgarten

Friedrich Schiller und die Sicherheitspolitik: Das Festival „Räuber + Gendarmen“ in Jena geht dem Beginn des Überwachungsstaats nach

Ort der Handlung ist ein weit verzweigtes Netz der Kontrolle und Disziplinierung

VON ROBERT HODONYI

In seiner ersten kulturpolitischen Rede, anlässlich einer Schillermatinee im Berliner Ensemble, unterstellte Bundespräsident Horst Köhler all jenen „arrogante Spießigkeit“, die heute noch versuchten, Schiller zu „entstauben“ und zu „problematisieren“: „Ein ganzer Tell, ein ganzer Don Carlos! Das ist doch was!“, sagte der Bundespräsident. Dabei ist die Forderung der Werktreue eine der späten Klassikrezeption. Zu Lebzeiten Schillers sah man das entspannter. Man denke nur an die erste Spielzeit von „Kabale und Liebe“ in Mannheim, in der gleich ganze Passagen frei von der Bühne improvisiert wurden.

Fern von konservativen Appellen und vom öffentlich-rechtlichen Schillerbild unserer Tage, tut sich derweilen einiges im Substream der Interpretationen deutscher Klassik. Drei verschiedene Regieteams erproben in Jena, Weimar und Meiningen den Aufstand gegen die Kanonisierung von Friedrich Schiller. Vor allem junge TheatermacherInnen sind es, welche die Ränder in Schillers Oeuvre nach Ausfransungen erkunden, die sich auf die Spuren nichtkanonischer Aspekte und Begriffe begeben und selbstbewusste Fortschreibungen arrangieren, wie das Festival „Räuber + Gendarmen“ zeigt. Insbesondere Schillers weithin unbekanntes Dramenfragment „Die Polizey“ (1799–1804) wird ins Zentrum einer Lesart gerückt, die ihre Nervenpunkte in den Debatten um die Verschärfung der inneren Sicherheit, neuen sozialen Kontrollmechanismen oder den Auswüchsen der Terrorparanoia seit dem 11. September findet. Die drei unterschiedlichen Zugriffe kommen von der Züricher Theatergruppe FarADayCage, dem Regieduo KranzNordalm und Till Müller-Klug sowie von der Gruppe Norton.Commander.Productions. Letztere eröffneten mit ihrer Sicht auf „Die Polizey“ das Festival und machten das Theater selbst zum Darstellungsraum von polizeilicher Methodik, Willkür und Verhörmethoden; die Bühne wird zum strategischen Ort, von dem aus polizeiliche Aktionsweisen inszeniert werden.

Im Theaterhaus Jena changiert der Raum ständig zwischen einem Drinnen und einem imaginären Draußen, das wie durch einen Grauschleier zu sehen ist. Drinnen ist eine karg eingerichtete Polizeibehörde mit Aktenordnern und Schreibtischen samt Verhörspezialisten, Protokollführer und dem des Mordes und der Vergewaltigung an zwei kleinen Mädchen verdächtigten Anwalts Martinou (Haymon Maria Buttinger). Nach draußen geht der Blick scheinbar, durch eine durchsichtige Leinwand auf eine Straßenkreuzung mit Ampeln. Auf der Straße finden Parallelhandlungen und Einschübe zu den Verhören Martinous statt, etwa wenn sich die Schauspieler aus dem Nichts in Mainzer Einwohner verwandeln und den diesjährigen Besuch von Georg W. Bush in ihrer Stadt kommentieren: „Die Polizei stand schon in meinem Vorgarten. Die suchen hier hinter jedem Baum, drehen die Steine um und inspizieren jedes Haus. Ich fühl mich wie im Krieg“, sagt ein Rentner.

Hier wird deutlich, warum gerade Schillers „Polizey“ heute interessiert. Nicht mehr böhmische Wälder, frühneuzeitliche Schlachtfelder, machiavellistisch geprägte Fürstenhöfe oder aufgeklärtes bürgerliches Terrain sind Orte der Handlung, sondern eine anonyme Institution und deren weit verzweigtes Netz der Kontrolle, Überwachung und Disziplinierung in einer europäischen Metropole, deren Unübersichtlichkeit komplexe Machttechnologien benötigt: „Die Handlung wird im Audienzsaal des Polizeilieutnants eröffnet, welcher seine Kommis abhört und sich über alle Zweige des Polizeigeschäfts und durch alle Quartiere der großen Hauptstadt weitumfassend verbreitet. Der Zuschauer wird schnell mitten ins Getreibe der ungeheuren Stadt versetzt und sieht zugleich die Räder der großen Maschine in Bewegung …“, heißt es in der Eröffnungssequenz von Schillers Fragment. Fast scheint es so, als hätte er stellenweise die Topografie von Walter Benjamins „Passagen-Werk“ antizipiert, in dem der Dichter Paris zum Schwellenort der Moderne macht und die aufstrebende „Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ darstellt mit ihren „geheimeren, tiefer gelagerten Stadtfiguren: Morde und Rebellionen, die blutigen Knoten im Straßennetze, Lagerstätten der Liebe und Feuerbrünste“, wie es Benjamin beschreibt.

Die größte Schwierigkeit der ersten Inszenierung zeigt, dass es wenig Ansatzpunkte gibt, Schillers Text eine Verkörperung auf der Bühne abzugewinnen, da sich das Fragment konsequent gegen die Visualisierung von vertikalen Herrschaftsverläufen sperrt. Die Gruppe Norton.Commander.Productions nimmt so auch nur Zitate aus Schillers Fragment und verwendet sie als vertonte emblematische Überschriften, die einen eigenen, konstruierten Kriminalfall kommentieren. Der Polizeiarbeit auf der Bühne, insbesondere der Binnendramaturgie bei Verhören von Martinou oder eines Amok laufenden VS-Beamten, fehlt es dabei ein wenig an realistischen Spannungsbogen. Teilweise kommt man sich vor wie in einem weniger geglückten „Tatort“.

www.polizey.de, Räuber + Gendarmen bis 19. Juni