Das Monster ist nicht da

DISKUSSION Im Maxim Gorki Theater versuchten Wissenschaftler, sich über Normen und Gewalt zu verständigen – und waren so fixiert auf die Geschichte und ferne Weltgegenden, dass sie Gewalt im Hier und Jetzt übersahen

Als er im Gefängnis saß, denunzierte Stalin einen anderen Häftling

VON SONJA VOGEL

„Was ist Gewalt?“, fragte vorgestern Abend der Direktor der Topographie des Terrors, Andreas Nachama, im Studio des Maxim Gorki Theaters. Eine Frage, die zu beantworten nicht einfach ist. Auf dem Podium saßen neben Nachama der Historiker Jörg Barberowski, Hans-Ludwig Kröber von der Forensischen Psychatrie der Charité und Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen. Rund 60 Interessierte waren zu der Diskussion „Normen und Gewalt“ gekommen.

„Gewalt sind auch Dinge, die erlaubt sind“, meinte Körber, und verwies auf Gewaltakte von Ärzten zum Wohle der Patienten. Barberowski definierte Gewalt enger, nämlich als Aktion, die darauf abzielt, Menschen zu verletzen oder zu töten. „Wir können uns die größten Grausamkeiten vorstellen und sind darum dazu fähig“, sagte er. Wer über diese Wahrheit hinwegsehe, mache sich etwas vor.

Nach Kröber hat Gewalt eine Funktion. Sie dient der Machtherstellung und -erhaltung. Selbst Hooligans folgten Regeln: „Auch sie könnten manierliche Diskussionspartner sein“, erläuterte er. Die Öffentlichkeit aber pathologisiert Gewalt. Im Fernsehen tritt uns das Abnormale entgegen: eiskalte Mörder, Kranke. Nachama erzählte, wie sich ein Besucher der Topographie des Terrors über das Bild eines lächelnden Joseph Goebbels echauffierte. „Die Öffentlichkeit will Monster haben“, sagte er. „Aber das Monster ist nicht da.“

Barberowski erinnerte an die Massenmorde des 20. Jahrhunderts. Erst in der vergangenen Woche hatte er für sein Werk „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“ den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten. „Die meisten dieser Mörder waren normale Menschen“, führte er aus. Während Staaten normalerweise Gewalt an klare Regeln bänden, könne das Gewaltmonopol auch ins Gegenteil umschlagen: „Der Stalinismus ist ein Beispiel dafür, wie sich ein Staat mit grenzenloser Gewalt selbst abschafft.“ Die steile These des Historikers: Während das NS-Regime seine Opfer definierte, sei unter Stalin die Gewalt grenzenlos gewesen. „Stalinistische Täter haben sich nach 1937 in einem Wettstreit des Tötens befunden, nur um selbst zu überleben.“

Wenn exzessive Gewalt als pathologisch gilt, spricht dies die Gesellschaft frei. „Weil wir es nicht wahrhaben wollen, dass Familienväter fernab der Heimat Frauen und Kinder töten, brauchen wir das Monster“, so der Historiker. Eine Strategie der Schuldabwehr, wie sie aus der deutschen Nachkriegsgesellschaft bekannt ist: auf der einen Seite die pathologisierten Tyrannen, auf der anderen die Mitläufer. Beiden gemeinsam ist die begrenzte Schuldfähigkeit.

„In normalen Zeiten wäre Stalin im Knast gelandet“, kommt Barberowski zurück zu seinem Thema. Während eines Gefängnisaufenthalts habe Stalin einen Mithäftling als Spitzel denunziert, der dann ermordet wurde. Barberowski sucht nach einem einzelnen kranken Geist hinter dem millionenfachen Mord. Seine These vom mordenden Tyrannen genügt ihm vollauf.

Trotz der Versuche, Funktion und Zweckmäßigkeit von Gewalt zu thematisieren, tendierte das Podium dazu, Gewalt als das Andere zu betrachten – im räumlichen wie im zeitlichen Sinn. Dies wurde manchmal geradezu grotesk. Barberowski etwa ging so weit, die Respekt einflößende deutsche Gefängnisarchitektur als Mittel der Befriedung zu loben. „Wir haben die absolute Macht, und du bist ein Nichts“, interpretierte Körber die brutale Wirkmacht der Bauten.

Eine Frau aus dem Publikum kritisierte, das Podium selbst exotisiere Gewalt, in dem es heute lediglich von Gewaltausbrüchen in Liberia oder im Sudan spreche. Die europäische Verantwortung für Gewalt in Afrika werde verschwiegen. Und so bekam die Diskussion noch einmal Aufwind. Tankred Stöbe erinnerte an den Völkermord in Ruanda. „Die Welt hat sich bewusst entschieden, nicht einzuschreiten“, resümierte er. Gewalt entsteht auch, wenn man wegschaut.