Hier bin ich Mensch

Die kluge Israel-Doku „Das Haus und die Wüste“ lässt Häuser, nicht Menschen sprechen (So., 22.15 Uhr, 3Sat)

Ein viel gehörter Satz in Israel lautet: „Es schön hier, nur hier möchte ich leben.“ Es ist zweifellos schön in Israel, so schön, dass Menschen aus aller Herren Länder dort zusammenleben – leider nicht friedlich. Die Filmemacherin Anna Faroqhi hat sich den Häusern, Zelten und Baracken gewidmet, unter deren Flachdächern, Planen und Ziegeln sich der israelische Alltag abspielt: Ein Haus ist in ihren Augen mehr als nur ein Dach über dem Kopf, es ist ein Symbol für eine Idee von Leben.

Nicht die Menschen kommen in diesem Dokumentarfilm zu Wort, sondern ihre Behausungen: Tel Aviver Bauhaus-Wohnblöcke aus den 30er- und 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts erzählen die Geschichte der zwangsemigrierten Juden aus Europa – viele der Häuser sind mittlerweile baufällig, weil man in Dessau nicht auf die klimatischen Bedingungen des Nahen Ostens eingestellt war, zugemauerte Balkone und Luftschächte zeugen von einer Verschiebung des öffentlichen Lebens ins Private. Kriegsangst und Intifada haben ihre Spuren hinterlassen.

Seit der Intifada werden zunehmend Fremdarbeiter, meist aus Thailand und Malaysia, ins Land geholt. Ihre Barracken und Container sind alt und windschief, ihre provisorischen Zelte aus Plastik. Die traditionellen Zelte der an den Stadträndern lebenden Beduinen aus Tierhaut und Stoff – sie leben außerhalb der Ordnung des israelischen Staates, ganz ähnlich wie die orthodoxen Juden im Jerusalemer Viertel Me’ah Sha’arim, das an ein verwinkeltes osteuropäisches Schtetl erinnert: eine eigene Welt, in der die Gesetze der Religion gelten.

Von einem Hügel aus schwenkt die Kamera (Til Maier) über das gelobte Land: Man sieht eine umzäunte jüdische Siedlung mit backsteinroten Dächern, wenig entfernt ein palästinensisches Dorf, dessen Flachdächer von einem Minarett überragt werden, schräg rechts die Gemüse verarbeitende Fabrik, von der alle zusammen leben. Ein Zusammenleben auf Sichtweite, das von schwer bewaffneten Wachposten kontrolliert wird – es gibt keinen Kontakt zwischen den Gruppen.

Anna Faroqhi („Die Geschichte von Belinda und Zoe“) ist es mit ihrem ungewöhnlichen Ansatz gelungen, einen unparteiischen und sehr genauen Blick auf Israel und seine Probleme zu werfen. Jeder einzelne Mensch in diesem Land scheint einen guten Grund zu haben, genau an diesem Ort zu sein: Weil man aus der angestammten Heimat weg musste oder wollte, weil man hier frei leben kann, weil man schon immer hier gelebt hat. Ihre mannigfaltigen Behausungen bezeugen ihre Existenz, ihren Durchhaltewillen und ihre Willenskraft – jeder Mensch braucht eben ein Dach über dem Kopf. MARTIN REICHERT