in der taz vor 10 Jahren: alois berger über die parlamentswahlen im königreich belgien
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So schnell zerfällt ein Königreich dann doch nicht. Der überraschende Wahlausgang in Belgien ist ein Plädoyer für die Einheit des Landes. Ein halbes Dutzend rechter flämischer Parteien mit dem rechtsextremen Vlaams Blok an der Spitze hat während des Wahlkampfes die Entsolidarisierung mit dem Süden des Landes gepredigt. Das reiche Flandern solle sich des verarmten Walloniens entledigen. Nach Meinung der Wahlforscher konnten die Rechten mit dem Beifall der flämischen Wähler rechnen.

Aber erstens kommt es anders, und zweitens haben die Belgier am Sonntag die Notbremse gezogen. Die Rechtsextremen sind in beiden Landesteilen nur unwesentlich stärker geworden, und die gemäßigten flämischen Christsozialen bleiben stärkste Kraft im zersplitterten belgischen Parteiensystem. Die eigentliche Überraschung ist, daß die Sozialisten, obwohl bis zum Hals im „Augusta“-Schmiergeldsumpf steckend, ungeschoren davongekommen sind. Einigen Wählern ist doch mulmig geworden bei dem Gedanken, daß eine rein konservative Regierungskoalition ohne sozialistische Koalitionsbremser die im letzten Jahr beschlossenen sozialen Einschnitte hemmungslos durchziehen würde. In Belgien, wo jeder Siebte arbeitslos ist, wo die Regierung ständig am Staatsbankrott entlangbalanciert und wo der flämisch-wallonische Konflikt die politischen Themen diktiert, bedeutet der Wahlausgang vom Sonntag vor allem eines: Die Belgier wollen, daß die Regierung weitermacht und die Politik sie möglichst in Ruhe läßt. In diesem Klima haben grüne Parteien keine Chance, aber auch keine rechten Rattenfänger.

Das ist um so erstaunlicher, als das belgische Wahlsystem so ziemlich alles unternimmt, die Wähler zu verbittern. Wahlpflicht für alle, obwohl vierzig Prozent lieber zu Hause bleiben würden, ausufernde Stimmzettel, die für stundenlange Wartezeiten sorgen. Und: Um 13 Uhr werden die Urnen geschlossen. Seit neuestem muß jeder Wähler auch noch sein Regionalparlament und seine Sprachenkammer wählen, die zu allem Überfluß auch noch unterschiedliche Gebiete abdecken. Vermutlich haben die Belgier angesichts der quadratmetergroßen Wahlzettel eingesehen, daß jede weitere Aufsplitterung des Landes, wie sie von den rechten Parteien betrieben wird, ihr Leben nur noch komplizierter machen würde.

(taz, 23. 5. 1995)