: Handwerk ohne Risiko
Während sich kurz die Sonne über dem politischen Berlin zeigte und anderswo schon die Hölle losbrach, gewann Daniel Gräfe den fünften Literaturpreis Prenzlauer Berg
Pop lebt! Allerdings heißt er jetzt mit Vornamen Steffen, schreibt sich anders und war auch nur einer von neun Jungliteraten, die es unter 500 Teilnehmern in die Endrunde des zum fünften Mal veranstalteten Literaturpreises Prenzlauer Berg geschafft haben. Mario Siegesmund, Julia Stein, Kolja Mensing, Marie Molterer, Sascha Reh, Steffen Popp, Herbert Hindringer, Peggy Bellmann und Daniel Gräfe traten am Samstagnachmittag zur öffentlichen Lesung in der restlos gefüllten Aula der Bibliothek am Wasserturm an. Genau zwei Liebesgeschichten, drei Sozialkritiken, drei Familienerinnerungen bzw. -abrechnungen („… und da stand Vater und sein Penis war riesig und verschrumpelt und braun und verschrumpelt und um ihn herum kringelten sich weiße Haare“) und eine finstere EU-Moritat wurden hier zu Gehör gebracht, während die schwüle Mailuft für eine spannende Atmosphäre irgendwo zwischen Klagenfurt und mündlicher Abiprüfung sorgte.
Links auf der Bühne saß die Jury, bestehend aus der Journalistin und Autorin Abini Zöllner (Berliner Zeitung), der Verlegerin Daniela Seel (Kookbooks) sowie dem Autor Jakob Hein (Reformbühne Heim & Welt), rechts der jeweilige Jungliterat allein hinterm Mikro, gelegentlich vom nicht allzu gestrengen Werner Grünewald des veranstaltenden Vereins LiteraturOrt Prenzlauer Berg wegen des Zeitlimits von 15 Minuten pro Text angemahnt.
Wie auch schon in den Jahren zuvor, als hier Autoren wie Larissa Boehning, Svenja Leiber und Jana Scheerer lasen, gewannen und gewissermaßen mit entdeckt wurden, wiesen auch dieses Mal die meisten Texte bereits ein erstaunlich solides Niveau auf und bemühten sich in der Regel erfolgreich um die dem Genre angemessene Kurzweiligkeit und Lesbarkeit. So lag dann der besondere Reiz der Veranstaltung gerade auch in den amateurhafteren Gesten. Wenn etwa Herbert Hindringer aus Passau einfach bekannte, dass er für sein Leben gerne schreibe. Oder wenn die junge Peggy Bellmann, die bereits für den sächsischen Landtag kandidierte und im Europäischen Parlament hospitierte, sich ambitioniert um den Posten der nächsten Juli Zeh bewarb. In ihrer Parabel „Überfall auf Polen“ lässt sie einen verzweifelten polnischen Bauern („Versailles, Hitler, Stalin, Brüssel – die Namen ändern sich, das Ergebnis ist das Gleiche!“) in die Oder gehen, weil seine Kühe die EU-Hygiene-Richtlinien für Milch nicht mehr erfüllen …
Anderntags wurden auf dem Kollwitzplatz im Rahmen des Prenzlauer-Berg-Literaturfests jedoch von der Jury zielsicher die erwartbaren Favoriten ausgezeichnet. Jeweils 250 Euro für den dritten und zweiten Platz gingen an den Schriftsteller und Kritiker Kolja Mensing mit seiner präzise beobachteten Micro-Fiction „Leere Zimmer. Geschichten vom Verschwinden“ mitten aus dem Reich von Hartz IV, sowie an den Duisburger Sascha Reh für seine Sozialsatire „Ein Opfer für die Wirtschaft“, in der ein ICE versicherungsmäßig geplant in den Untergang fährt.
Den mit 500 Euro dotierten Hauptpreis erhielt der in Biberach geborene und mittlerweile in Chemnitz lebende Journalist Daniel Gräfe für seine Kriegsheimkehrer-Geschichte „Mein Tantchen“: Handwerklich gekonnt, aber ein wenig risikoarm wird hier auf dem gerade gängigen Nachkriegsticket gesurft und die fremdenfeindliche Miefigkeit einer schwäbischen Kleinstadt angeprangert. Während sich am Abendhimmel die Sonne über dem politischen Berlin zeigte und anderswo bereits die Hölle losbrach, meinte Gräfe, der zur Preisvergabe seinen Siegertext noch einmal las: „Und jetzt kommt eine ein bisschen ernstere Geschichte.“ Da hatte Pop(p) mit seinem fragmentarischen „Heptateuch“ keine Chance mehr gehabt. ANDREAS MERKEL
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