piwik no script img

Im tiefen Morast des Darkweb

In dem Gerichtsdrama „Red Rooms“ des kanadischen Filmregisseurs Pascal Plante entwickelt die junge Protagonistin eine Obsession für einen brutalen Sexualmörder

Sehr versunken im Internet: Kelly-Anne (Juliette Gariépy) in „Red Rooms“ Foto: 24 Bilder

Von Tobias Obermeier

Im Palais de Justice in Montreal wird über das Böse gerichtet. Dort findet der erste Prozesstag gegen Ludovic Chevalier statt. Der „Dämon von Rosemont“, wie ihn die örtlichen Medien bezeichnen, wird beschuldigt, drei Mädchen bestialisch ermordet zu haben. Zu den weiteren Anklagepunkten gehören Entführung, Freiheitsberaubung, sexueller Übergriff mit Körperverletzung, Leichenschändung sowie Produktion und Vertrieb obszönen Materials. Denn die Morde wurden live im Darkweb gestreamt und sind – zumindest im Film – der erstmalige Beweis für die sogenannten „Red Rooms“, Websites, auf denen in einem Livestream Menschen ermordet, gefoltert oder sexuell missbraucht werden.

In dem kleinen, völlig in Weiß gehaltenen Verhandlungssaal des Gerichts sitzt Chevalier (Maxwell McCabe-Lokos) eingesperrt in einem Glaskubus. Der Blick des hageren Mannes mit Halbglatze ist starr nach vorne gerichtet, die Beine sind überschlagen. So wie er dort sitzt, wirkt er geradezu armselig. Doch aus seinem regungslosen Gesicht spricht zugleich eine grauenhafte Gleichgültigkeit. Die Kamera von Vincent Biron wandert nahezu in einer einzigen Einstellung durch den Raum und beobachtet das Geschehen. Wie Staatsanwaltschaft und Verteidigung ihre ersten Plädoyers halten und ihre Appelle an die Geschworenen richten. Immer wieder nähert sich die Kamera behutsam den Beteiligten und nimmt sie in den Fokus, ehe sie weiterwandert.

Der kanadische Regisseur Pascal Plante inszeniert die ersten zwanzig Minuten seines Films „Red Rooms“, der letztes Jahr auf dem tschechischen Karlovy Vary International Film Festival Uraufführung feierte, als intensives und wuchtiges Gerichtsdrama, wie man es selten im Kino zu sehen bekommt. Nur um dem Publikum sogleich ein Schnippchen zu schlagen. Denn im Zentrum des Films steht weder der Prozess noch der Angeklagte. Am Ende der Szene richtet sich der Blick langsam auf Kelly-Anne, die in den hinteren Zuschauerreihen sitzt und fasziniert auf den Angeklagten hinter dem dicken Sicherheitsglas starrt.

Wie wir im weiteren Verlauf erfahren, ist Kelly-Anne ein gefragtes Fotomodel und wohnt in einem mondänen Hochhaus-Apartment in Downton Montreal mit Panoramablick über die Stadt. Das große Geld macht sie mit Online-Poker. Abends, wenn sie sich von ihrer selbst entwickelten Sprach-KI E-Mails vorlesen lässt oder auf einen ihrer beiden Computer-Monitore die Bitcoin-Kurse checkt, pfeift der Wind gespenstisch an der breiten Fensterfront entlang. Trotz ihrer luxuriösen Wohnung schläft sie nachts in dicker Winterkleidung auf der Straße – für den Thrill. So auch vor dem ersten Prozesstag im Fall Chevalier.

„Red Rooms“ ist ein eindringlicher Film, der in seiner dramaturgischen Finesse konsequent jegliche Fallen vermeidet, in die konventionelle Thriller allzu gerne treten. Der angeklagte Mörder wird über die gesamte Spielzeit nicht ein Wort sagen. Ebenso wenig sind die auf Video festgehaltenen Taten zu sehen – zumindest nicht für das Kinopublikum. Das unsägliche Grauen, von dem hier erzählt wird, macht sich einzig im Kopf breit. Trotz seines Verzichts auf explizite Gewaltdarstellung ist der Film nichts für schwache Nerven.

Angesichts der Fülle an Filmen und Serien, die sich dem Thema Serienmörder widmen, wirkt „Red Rooms“ ungemein erfrischend. Vor allem True-Crime-Formate wie „Ted Bundy: Selbstporträt eines Serienmörders“ oder „Dahmer – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer“ erleben einen wahren Boom. Serienmörder sind längst zu einer Art popkulturellem Phänomen geworden. „Red Rooms“ entzieht sich in gewisser Weise dieser Logik, wendet er doch den Blick eben jenen Menschen wie Kelly-Anne zu, die von der Abscheulichkeit der Mörder so sehr angezogen werden.

Auch die weiteren Prozesstage verbringt sie auf ihrem Patz im Gericht. Dort lernt sie Clémentine (Laurie Babin) kennen. Im Gegensatz zu Kelly-Anne ist sie ein wahrhaftiger Groupie von Chevalier und von dessen Unschuld felsenfest überzeugt, für die sie trotz erdrückender Beweislage noch die haarsträubendsten Erklärungen herbeifantasiert. So sei die Gerichtsverhandlung nur eine große Show und die beiden Snuff-Videos (jenes vom dritten Mord ist nicht auffindbar) seien nichts als fake. Aus Mitleid bietet Kelly-Anne der mittellosen Clémentine, die für die Prozesstage aus einer Provinzstadt nach Montreal gereist ist, Obhut an, wodurch zwischen den ungleichen Frauen langsam so etwas wie Freundschaft entsteht.

So wie Kelly-Anne von Chevalier in den Bann gezogen wird, ist man als Zu­schaue­r*in von ihrem Wesen fasziniert. Was hat es mit ihrer Obsession für Ludovic Chevalier auf sich? Sucht sie einen Nervenkitzel, der ihr das Gefühl gibt, lebendig zu sein? Pascal Plante verzichtet auf jegliche Psychologisierung. Kelly-Anne ist unnahbar, kühl und rational. Beim Pokerspielen sucht sie emotionale Spieler und lässt sie langsam ausbluten, wie sie einmal erklärt. Ist es diese Indifferenz und Erbarmungslosigkeit, die sie selbst in kleinem Maßstab anwendet und bei Chevalier so sehr fasziniert? Während der affektgetriebenen Clémentine die Gewalt, mit der sie sich letztlich konfrontiert sieht, zu viel wird und sie eine Kehrtwende vollzieht, begibt sich Kelly-Anne in eine Abwärtsspirale, aus der sie nicht mehr rauskommt. Eine andere Option als „All in“ zu gehen, scheint es nicht mehr zu geben. Dabei hat sie auch schon längst die Grenze zur Illegalität überschritten.

Ist es ihre eigene Erbarmungs­losigkeit, die sie bei Chevalier so fasziniert?

Wenn ihre haselnussbraunen Augen vom grellen Licht der Monitore im schummrigen Abendblau der Wohnung angeleuchtet werden und sie sich mit wenigen Klicks in dubiosen Hacker-Datenbanken ­Zugang zum Elternhaus einer der Ermordeten verschafft, entsteht eine ungeheure Sogwirkung. Die kanadische Schauspielerin Juliette Gariépy spielt Kelly-Anne mit einer großen, aber kraftvollen Zurückhaltung. Es reicht der fokussierte Blick ihrer großen Augen vor dem Bildschirm, um voller Rätsel zu sprechen. Kelly-Anne bewegt sich dabei zielgerichtet durch die Untiefen des Darkweb. Im Gegensatz zum Gericht ist das der Ort maximaler Rechtsfreiheit. Ein Ort, an dem sich der freie Markt von Angebot und Nachfrage jeglicher Kontrolle entzieht. So sollen die Mordopfer der Nachfrage entsprechend ausgesucht worden sein: jung, blond, blauäugig.

Zur schaurigen Atmosphäre des Films trägt auch die Musik von Dominique Plante (der Bruder des Regisseurs) bei, die zwischen getragenen Cembalo-Einsätzen, verzerrten E-Gitarren und opulenten Orchesterausbrüchen changiert. Jene Szene, in der im Gerichtssaal Kelly-Anne von Chevalier gleich einem Erweckungserlebnis angeblickt wird und sich die mit choralen Gesängen angereicherte Untergangsmusik mit den übersteuerten Todesschreien der ermordeten Mädchen vermengt, ist das finstere Fanal in diesem unheilvollen Film. Die Szene geht unter die Haut.

So abgründig und beklemmend Pascal Plante „Red Rooms“ auch angelegt hat, gegen Ende des knapp zweistündigen Films schlägt er doch noch sanfte Töne der Hoffnung an, die einen kleinen Sonnenstrahl im ansonsten düster verhangenen Himmel erhaschen lassen. Man möchte sich nur nicht vorstellen, dass jenes Grauen, von dem hier erzählt wird, tatsächlich irgendwo im tiefen Morast des Darkweb feilgeboten wird.

„Red Rooms – Zeugin des Bösen“. Regie: Pascal Plante. Mit Juliette Gariépy, Laurie Babin u. a. Kanada 2023, 118 Min.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen