„Es wäre schön, wenn man sich an das geltende Recht halten würde“

Zum Grundgesetz-Jubiläum spricht Juristin Ulrike Lembke darüber, wie es mit der Gleichstellung aussieht

Interview Frida Schubert

taz: Frau Lembke, wie steht es um die Gleichstellung in Deutschland?

Ulrike Lembke: Das ist immer auch eine Frage der Perspektive. Einerseits geht es Frauen in vielen Ländern der Welt deutlich schlechter, andererseits ist die Situation für Gleichstellung in Deutschland als einer reichen europäischen Nation ziemlich schlecht. Im Grunde genommen ist die Gleichstellung hier in einer Krise, aber das ist sie auch schon sehr lange.

taz: Kann Gleichstellung überhaupt durch das Grundgesetz erreicht werden?

Lembke: Es ist immer ein Wechselspiel zwischen Recht und Gesellschaft. Die Gleichberechtigung wurde nicht einfach so ins Grundgesetz geschrieben: Das musste hart erkämpft werden. Mit der Verankerung im Grundgesetz ist die Sache aber keineswegs erledigt. Es braucht weiterhin zivilgesellschaftliches Engagement, wofür Rechtsnormen ein wichtiger Bezugspunkt sein können. Die herrschende Gruppe gibt nie gerne von ihrer Macht ab.

taz: Die Gleichstellung im Grundgesetz 1949 war also keine Selbstverständlichkeit?

Lembke: Dass Männer und Frauen im Grundgesetz gleichgestellt sind, war damals sehr umkämpft. Die Väter des Grundgesetzes sahen das patriarchale Familienrecht und damit die gesellschaftliche Ordnung in Gefahr. Artikel 3 Absatz 2 ist der einzige Artikel im Grundgesetz, bei dem vom Bundesverfassungsgericht bestätigt werden musste, dass es sich um „eine echte Rechtsnorm“ handelt.

taz: Wie sah es im deutsch-deutschen Vergleich aus?

Foto: Wolfgang Kumm/dpa

Ulrike Lembke Jahrgang 1978, Jura-Professorin und seit 2020 Richterin am Berliner Landesverfassungsgericht, seit 2021 Leiterin des Verbundprojekts „Antisemitismus als justizielle Herausforderung“, arbeitet seit 2023 als Freie Rechtswissenschaftlerin und Expertin für Geschlechterstudien.

Lembke: Die DDR wollte mit Gleichberechtigung punkten und nahm das gleich in die Verfassung auf. Faktisch waren Frauen in der DDR dann vielfach berufstätig und damit ökonomisch unabhängig, aber die Sorgearbeit blieb meist doch an ihnen hängen. Mit der Deutschen Einheit hätte sich wirklich etwas bewegen können – die BRD hatte 1989 im westeuropäischen Vergleich ein markantes Modernisierungsproblem in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse. Das blieb dann so.

taz: Was sind die wichtigsten Errungenschaften der vergangenen 75 Jahre?

Lembke: Da gibt es schon viel. Die Familienrechtsreform von 1977 war sehr wichtig, aber auch sehr spät. Gleiches gilt für die Sexualstrafrechtsreformen: 1997/98 wird Vergewaltigung in der Ehe strafbar, seit 2016 gilt „Nein heißt Nein“. Bahnbrechend war das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz – das kam allerdings aus dem Europarecht, nicht dem Grundgesetz.

taz: Worin liegt die größte Gefahr für die Gleichberechtigung?

Lembke: Sie verliert Unterstützer:innen, viele denken: Was denn noch? Es gibt gezielte Angriffe von rechtsextremistischen, rechtspopulistischen und fundamentalistischen Bewegungen. Seit Corona sehen wir ein Comeback von traditionellen Geschlechterrollen. Deutschland hat auch oft nicht die Rahmenbedingungen, wenn Paare gleichberechtigt leben wollen. Mit dem ersten Kind arbeitet der Mann mehr als Vollzeit, die Frau unter 50 Prozent Teilzeit, und das langfristig. Dabei gibt es auch andere Modelle.

Vortrag „75 Jahre Gleichstellung im Grundgesetz – Entwicklung und Perspektiven“: 15. 10., 18.30–20.30, Roter Salon im Schloss, Schlossplatz 1, Braunschweig

taz: Welche denn?

Lembke: In den Niederlanden heißt Teilzeit, dass beide Elternteile jeweils drei volle Tage die Woche arbeiten und sich dadurch abwechseln können mit der Kinderbetreuung.

taz: Was muss passieren, um Gleichberechtigung zu erreichen?

Lembke: Es wäre schön, wenn man sich an das geltende Recht halten würde. Gleichstellung ist nicht erreicht. Die derzeitige Situation ist ein Verfassungsbruch in Permanenz. Am wichtigsten ist aber, dass Menschen und Institutionen Geschlechtergerechtigkeit als ihre eigene Aufgabe und ihr persönliches Anliegen begreifen, auch für die nächste Generation.