Feuer, Schwefel, vielstimmiger Chorgesang

Kentucky-Harmonie: US-Singer-Songwriter Bonnie „Prince“ Billy kommt nach langer Pause auf Tour. Sein eigenwilliger Folkstil ist mit der Tradition der Appalachen vertraut und geht doch weit darüber hinaus

Unglaublich seltsam und eindringlich schön: Will Oldham Foto: Urban Wyatt

Von Caro Stamm-Reusch

Auf jeden von uns wartet der Tod. Mit dieser Erkenntnis machen so banale Dinge wie das Rasensprengen mit dem Wasserschlauch gleich viel mehr Spaß. Abgründig zu sein, aber mit Leichtigkeit, im Songtext wie in der Musik, das schaffen nur wenige so gut wie der US-Singer-Songwriter Will Oldham, genannt Bonnie „Prince“ Billy. Das obige Zitat entstammt dem Album, mit dem er vor mittlerweile 25 Jahren einem größeren Publikum bekannt wurde: „I See A Darkness“. Es war gleichzeitig seine erste Veröffentlichung unter dem Künstlernamen, der an den erfolglosen Stuart-Prinzen erinnert. Mit Schottland hat Will Oldham allerdings nichts am Hut, er kommt aus Louisville im US-Bundesstaat Kentucky, wo er bis heute lebt und arbeitet. Nach über zehn Jahren kommt Bonnie „Prince“ Billy endlich wieder auf Tournee. Sein aktuelles Album ist bereits 2023 erschienen: „Keeping Secrets will Destroy you“ zeigt den Künstler in bestechender Verfassung.

Anlässlich eines besonderen Auftritts in Berlin in einigen Tagen lohnt es sich, noch einmal einen Blick zurück zu werfen. Der Titelsong von „I See A Darkness“, wurde ein Jahr nach Veröffentlichung von keinem Geringeren als Johnny Cash auf dem Album „American Recordings“ gecovert, Oldham selbst sang dafür die Backing-Vocals. Vom Großen Vorsitzenden der Americana-Gemeinde diese Ehre erwiesen zu ­bekommen will schon etwas heißen. Auch andere erkannten in Oldham ein Songwriter-Genie, das seinesgleichen sucht. So wählte US-Internet-Magazin Pitchfork das Album auf Platz 9 seiner Rangliste der besten 100 Werke der 1990er.

Damit war Bonnie „Prince“ Billy endgültig zur Indie-Berühmtheit geworden. Dabei war der 1970 geborene Künstler schon weit vor der Jahrtausendwende aktiv. Ein Studium brach er ab, die Schauspielkarriere in Hollywood sollte es auch nicht sein. So kam er Anfang der Neunziger zurück nach Kentucky und begann mit einer Vielzahl von Leuten aus der lokalen Musikszene seiner Heimatstadt Musik zu machen, darunter auch seine Brüder Paul und Ned. Mit Paul zog Will auf die elterliche Schafsfarm im Umland. Hier ließ es sich ungestört leben und Songs komponieren. Das Resultat waren fünf Alben unter Varianten des Namens Palace („Palace Music“, „Palace Brothers“, u.v.a.). Auch „I See A Darkness“ wurde dort aufgenommen.

Louisville liegt westlich der Bergkette Appalachen, der Bundesstaat Kentucky ist geprägt vom Bergbau. „Appalachia“ meint nicht nur die Gegend, sondern auch die Kultur der eigenbrötlerischen Bergler und nicht zuletzt ihre Musik. Klassiker des US-Folk wie der „Wayfaring Stranger“, auch von Johnny Cash besungen, kommen von hier. Betreibt man in der Region etwas Wurzelsuche, stößt man immer wieder auf eine archaische Form des kraftvollen vielstimmigen Chorgesangs, etwa auf dem Soundtrack des Bürgerkriegsdramas „Cold Mountain“ (2003). Hundert raue Kehlen singen in voller Lautstärke, ohne Instrumente: „And am I born to die? / To lay this body down? / And must my trembling spirit fly into a world unknown?“. Das Lied, das hier so eindrucksvoll das ewige Memento Mori beschreibt, oder besser: beschreit, kommt aus den Appalachen. Der Text stammt aus der Feder von Charles Wesley, Mitbegründer der Methodisten; die Melodie schrieb Ananias Davisson, Komponist aus dem benachbarten Shenandoah Valley. Es erschien erstmals 1816 in Davissons Gesangbuch „Kentucky Harmony“, und später in dem Buch, das dieser Musik den Namen geben sollte: „The Sacred Harp“. Der Titel des Songs, ähnlich mysteriös: „Idumea“.

Wer mit dem Werk von Bonnie „Prince“ Billy vertraut ist und sich außerdem für die seltsamen Randbereiche des Folk interessiert, dem dürften Titel und Text bekannt vorkommen. Der britische Industrialfolk-Musiker David Tibet veröffentlichte 2006 als Current 93 das mystisch verbrämte Konzeptalbum „Black Ships Ate The Sky“. Das zentrale Element: „Idumea“. Insgesamt neun Versionen des Songs, mit verschiedenen Gaststimmen, etwa von Shirley Collins und Ahnoni Hegarty, sind vertreten. Der apokalyptische Text passt wunderbar zu Tibets eigenen fiebertraumartigen Texten. „Waked by the trumpet sound / I from the grave shall rise/And see the judge in glory rise, / And see the flaming skies!“

Bonnie „Prince“ Billy ist auch mit dabei. Seine Interpretation von Idumea klingt stark reduziert auf die Kernelemente des Folk: ein dräuender Dronesound, ein lakonisches Banjo, darüber schwebt Oldhams immer wieder brüchige Stimme, die eindringlich das Düstere im Jenseits besingt: „A land of deepest shade / Unpierced by human thought / The dreary region of the dead / Where all things are forgot.“

Der Song ist „Gothic Americana“ vom Feinsten, auch wenn man Will Oldham nicht auf dieses Etikett reduzieren sollte, dazu ist sein Werk zu vielfältig. In den vergangenen 25 Jahren hat er nicht nur fast genauso viele Alben veröffentlicht, sondern ist auch der Schauspielerei treu geblieben. Immer wieder wirkte er in Indie-Filmen mit, etwa in Kelly Reichardts „Old Joy“ (2006). Der Filmregisseur und Schauspieler Tim Morton lebt ebenfalls in Louisville. 2016 lernten er und Oldham sich am Set des Indie-Films „Men Go To Battle“ kennen. Sie freundeten sich an, wiewohl sie bereits gemeinsame Bekannte in der örtlichen Musik- und Kunstszene hatten.

Und Tim Morton macht auch Musik: Er singt „Sacred Harp“. Tatsächlich hat diese alte Chortradition aus Appalachia in letzter Zeit eine erstaunliche Wiederbelebung erfahren. In den ländlichen Südstaaten, in Baptistengemeinden und Sängerfamilien vor dem Aussterben bewahrt, verbreitete es sich zuerst im Zuge des Folk-Revivals auch in die urbanen Zentren der USA, um dann etwas später Europa zu erreichen. In Großbritannien fiel „Sacred Harp“ auf fruchtbaren Boden, denn hier liegen seine Wurzeln: In den alten Kirchen- und Volksliedern, die von den Auswanderern in die USA mitgenommen wurden. Seit einiger Zeit wird auch in Deutschland „Sacred Harp“ gesungen. Die existenziellen Texte treffen einen zeitlosen Nerv, aber es ist vor allem die unmittelbare, kraftvolle Musik, die so anders klingt als brave Choräle. „Sacred Harp ist a cappella Heavy Metal“, ­schreiben die Bremer Sän­ge­r*in­nen auf ihrer Webseite, und das trifft es gut. Powerchords, Feuer und Schwefel, alles da.

Dieser hypnotische Sound geht einher mit einer Praxis, die viel mehr Folksession als Chorprobe ist, egalitär und gemeinschaftsorientiert, und die vor allem viel Inbrunst ermöglicht, ohne den religiösen Ballast. Religion und Politik bleiben draußen aus dem hollow square – dem Viereck aus Stühlen, in dem man sich beim „Sacred Harp“-Singen gegenübersitzt. Nur so ist zu erklären, wie sich bei den großen Conventions Menschen über Alters-, Partei- und Religionsgrenzen hinweg begegnen können. Republikanisch wählende Rednecks sitzen neben queeren jüdischen New Yorker Aka­de­mi­ke­r*in­nen und singen gemeinsam alte Folk-Hymnen. Das klappt nicht immer reibungslos, aber es funktioniert, um ein altes Klischee zu bedienen, durch die verbindende Kraft der Musik.

Die archaische Form von „Sacred Harp“-Gesang lässt Will Oldham wieder aufleben

Seit dem Comeback haben sich Indiefolk-Mu­si­ke­r*in­nen immer wieder von „Sacred Harp“ inspirieren lassen. Will Oldham, der seine musikalische Inspiration seit jeher aus den obskuren Musiktraditionen seiner Heimat Kentucky schöpft, hat auch schon mitgesungen. 2019 erschien „In Good Faith“, das zweite Video von Bonnie „Prince“ Billy unter der Regie seines Freundes Tim Morton. Es besteht fast komplett aus Material, das Morton für ein bisher unveröffentlichtes Dokumentarfilmprojekt über die singing communities in den USA gedreht hat. Gezeigt werden junge und alte Menschen unterschiedlichster Herkunft, alles Freun­d*in­nen von Tim, wie sie von nah und fern anreisen, um zusammen zu singen.

Bonnie „Prince“ Billy wird hier Teil der Sängergruppe, er reiht sich bei den namentlich genannten Porträtierten ein: Rod from Alabama, Betsy from Portland, Will from Kentucky. Dem US-Rolling Stone sagte er 2019 in einem ­Interview: „Man wird komplett von dieser Masse an Stimmen überwältigt (…). Es bricht alles aus einer Gruppe von Leuten hervor und wird zum ­großen Ganzen. Und man selbst ist mittendrin. Es fühlt sich ganz wunderbar an, weil es kein Entkommen gibt. Man fühlt sich sicher, und man kann sich einfach dieser Naturgewalt hingeben.“

Am zweiten Berliner Konzerttermin wird Bonnie „Prince“ Billy die Berliner Sacred Harp Sän­ge­r*in­nen auf die Bühne bitten. Auch dies hat schon Tradition, es fand so bereits zweimal bei seinen Londoner Gigs statt, ermöglicht durch eine reisefreudige europäische junge Szene, die gerne jede Gelegenheit nutzt, um gemeinsam zu singen. Dass es in den Liedern die meiste Zeit um Tod, Jenseits und Höllenfeuer geht, tut der Freude daran keinen ­Abbruch. Das Leichte im Abgründigen finden und umgekehrt – das gelingt sowohl den Sacred Harp Singers wie auch dem ewig inspirierten und inspirierenden Vollblutmusiker Will aus Kentucky.

Bonnie „Prince“ Billy: „Keeping Secrets Will Destroy You“ (Domino/Rough Trade)

live: 9. 10., „Tollhaus“ Karlsruhe, 10.10. „Zoom“ Frankfurt, 11.10. „­Redoutensaal“, Erlangen, 12.10. „Audimax“ Regensburg, 13.10. „Kammerspiele“, München, 15.10. „Lichtburg“, Essen, 16.10. „­Peterskirche“ Leipzig, 17.10. „Kampnagel“ Hamburg, 18./19.10. „Boulez Saal“, Berlin.

Caro Stamm-Reusch ist Teil von Sacred Harp Berlin