Die Unsichtbaren der Einheit

Am Tag der Deutschen Einheit wird die Wiedervereinigung von West- und Ostdeutschland gefeiert. Mi­gran­t*in­nen­ver­bän­de kritisieren eine weiße Sicht auf die Ereignisse und fordern einen Tag der deutschen Vielfalt, der an die deutsche Einwanderungsgeschichte erinnert

Für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund verlief die Wiedervereinigung in verschiedene Richtungen Foto: Rolf Schulten

Von Derya Türkmen

Der 3. Oktober markiert das Ende der deutschen Teilung und die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland. Was dabei oft vergessen wird: Die deutsche Einigung ist nicht nur eine Geschichte von Ost und West, sondern auch eine Geschichte der Migration, der Vielfalt und des kulturellen Austauschs.

Denn während der Zeit der Teilung lebten sowohl in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) als auch in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) Millionen von Menschen mit Migrationshintergrund, die einen entscheidenden Beitrag zum wirtschaftlichen Aufbau und Wohlstand beider Staaten leisteten.

In der BRD waren es unter anderem die türkischen „Gastarbeiter“, die angeworben wurden, um in der Industrie, vor allem in Fabriken und im Bergbau, zu arbeiten. In der DDR wurden diese Menschen „Vertragsarbeiter“ genannt, sie kamen vor allem aus sozialistischen Bruderländern wie Vietnam oder Mosambik.

In der Geschichte des Tags der Deutschen Einheit werden diese Perspektiven häufig vergessen. Um sie zu verstehen, muss zunächst der Tag des Mauerfalls betrachtet werden, der aus migrantischer Perspektive durchaus anders erlebt wurde als von der weißen Mehrheitsgesellschaft.

Es ist der 9. November 1989, im leichten Licht der Straßenlaternen sieht man das Brandenburger Tor. Doch nur zur Hälfte, denn davor steht die Berliner Mauer. Noch. Die 155 km lange und 3,6 Meter hohe Mauer ist umzingelt von Menschen. Sie sind überall. Auf der Mauer, neben der Mauer. Aus Ost- und Westberlin. Die 25 Grenzübergänge, die 186 Überwachungstürme sind nun Geschichte. Sie soll nicht nur 400 Millionen Mark, sondern auch 251 Menschenleben gekostet haben.

Und jetzt ist sie weg, nach 28 Jahren. Deutschland ist wieder vereint. Zwar noch nicht offiziell, aber die Grenzen sind offen. Die Ostdeutschen fahren in der Nacht und auch noch in den nächsten Tagen mit ihren Trabis nach Westberlin. Hupend, feiernd, aus allen Richtungen: über die Glienicker Brücke kommen sie, die Bornholmer Straße und den Checkpoint Charlie.

So beschreibt es der türkische Autor Gökhan Duman in seinem Buch „Die Hauptstadt der Anderen“ (Ötekilerin Başkenti), in dem er vor allem die türkische Diaspora behandelt. Er erzählt auch von einem Slogan, der durch die Straßen von Berlin schallt: „Wir sind ein Volk! Wir sind ein Volk!“ Eine Ableitung, die von der DDR-Bürgerrechtsbewegung stammt und ursprünglich „Wir sind das Volk“ lautete. Heute ist der Slogan auf rechtsextremen Demonstrationen zu hören.

Die West­ber­li­ne­r heißen die ersten Flüchtlinge der Bundesrepublik mit wehenden Deutschlandfahnen willkommen. Sie werden bejubelt, beklatscht und umarmt. Auch von den türkischen Gastarbeitern, die seit 1961 in Berlin eine neue Heimat gefunden haben. Auch sie feiern die Wiedervereinigung von Deutschen und eben Deutschen. Von Ost und West. Die neue deutsche Einheit. Auch sie wollen ein Teil dieser Wiedervereinigung sein. Denn wirklich niemand wollte dieses große Ereignis verpassen.

Duman erzählt von türkischen Mitbürgern, die ihre privaten Autos zu Sammeltaxen umfunktionierten. Es waren vor allem die Kreuzberger Türken, die die Ostberliner kostenlos nach Westberlin fuhren und ihnen eine Straßenführung durch Kreuzberg gaben. Sie waren auf den Straßen, verteilten schwarzen Tee in den traditionellen, kurvigen Teegläsern, um die Ostdeutschen in Westberlin willkommen zu heißen.

Einer dieser Kreuzberger Türken erzählte am 14. November 1989 dem türkischen Journalisten Ali Haydar Yurtsever von der Zeitung Milliyet Folgendes: „Diese Menschen haben kaum etwas. Sie haben uns erzählt, was sie alles durchmachen mussten, um ein Auto und ein Haus zu bekommen. Wir haben sie zu uns eingeladen, ihnen Tee angeboten. Und sie erzählten uns, dass sie noch nie in ihrem Leben Bananen gegessen hätten. Stellen Sie sich das vor.“

„Als die Mauer fiel, waren die türkischen Immigranten die größte Minderheit in Berlin und in Deutschland. Die Wiedervereinigung hat vieles verändert, doch es änderte sich nichts an der Tatsache, dass die türkischen Gastarbeiter weiterhin die größte Minderheit in Berlin und Deutschland blieben“, erklärt der Dokumentarfilmemacher Can Candan in seinem Film „Duvarlar“ (Mauern) aus dem Jahr 1991. Ein Jahr nach der Wiedervereinigung und 30 Jahre nach dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen.

Der Film zeigt die Hoffnungen und Ängste der Menschen, die während und nach der Wiedervereinigung in Deutschland lebten. Und wie sie sich nach Jahren der Unsichtbarkeit in dieser neuen, wiedervereinten Gesellschaft fühlten. Es wurde klar, dass die Wiedervereinigung nicht nur eine Frage der Integration von Ost und West war, sondern auch eine Frage der Anerkennung der Migranten, die schon lange in beiden Teilen des Landes gelebt und gearbeitet hatten.

Der Taumel der Einheit ist eine sehr weiße Erzählung Foto: Erich Mehrl

Die Stimmen der Migranten aus dieser Zeit verdeutlichen, dass die „deutsche Einheit“ für viele von ihnen keine Verbesserung ihrer Lebenssituation bedeutete. Viele fühlten sich trotz ihrer langjährigen Präsenz in Deutschland immer noch als Außenseiter. Und wurden auch so behandelt: Eine der im Film Duvarlar interviewten Personen, dessen Name nicht genannt wird, erzählt, wie die türkischen Jugendlichen in Kreuzberg die Wiedervereinigung feiern wollten. Sie waren aufgeregt und freuten sich, wie alle anderen auch, bis ihnen gesagt wurde: „Das ist unser Fest, das wir gerne unter uns feiern möchten. Ihr gehört nicht dazu. Stört uns nicht.“

Am Tag der offiziellen Wiedervereinigung war für die meisten Einwanderfamilien die Zeit des Jubels vorbei. Für sie bedeutete die Einheit Arbeitslosigkeit und zunehmenden Rassismus. Menschen, die gekommen waren, um die deutsche Wirtschaft anzukurbeln und die wenige Monate zuvor ihre neuen Mitbürger freudig begrüßt hatten, wurden zunehmend ausgegrenzt.

Ihre Geschichte ist auch die Geschichte Deutschlands. Diese Menschen sind bis heute ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft, doch ihr Beitrag und ihre Existenz wurden lange Zeit marginalisiert. Bereits seit einigen Jahren fordern Migrantenverbände, wie das Netzwerk „neue deutsche Organisationen“, daher neben dem Tag der Deutschen Einheit auch einen Tag der deutschen Vielfalt für die Einwanderungsgesellschaft. Der Zusammenschluss von rund 170 postmigrantischen Organisationen kritisiert, dass dieser Tag bis heute aus einer rein weißen Sicht gefeiert wird – und die Arbeit der Einwanderer unsichtbar gemacht wird.