orte des wissens
: Von der Struktur des Schwarms

Das Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen erforscht, wie sich Teilchen zu Mustern fügen

Eine Gruppe von Wis­sen­schaft­le­r:in­nen geht durch den Wald, tief versunken in Gespräche über theoretische Physik. So kann man sich die Physikerin Viola Priesemann und ihre Forschungsgruppe vorstellen. „Laufen und über Wissenschaft sprechen ist etwas, das ich sehr genieße“, erzählt Priesemann. Ihre Forschungsgruppe beschäftigt sich mit theoretischer Physik und ist Teil des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbst­organisation. Etwas entfernt von der Göttinger Innenstadt, am Waldrand, liegt das Institut mit seinen ungefähr 300 Mitarbeiter:innen. Vor 100 Jahren wurde es gegründet und ist seit 1948 Teil der Max-Planck-Gesellschaft.

Im Laufe der Zeit hat es eine starke Wandlung erlebt. Bis 2004 hieß es noch „Institut für Strömungsforschung“, heute liegt der Fokus auf Selbstorganisation von Materie. Doch was ist Selbstorganisation überhaupt? „Gleichartige Teilchen agieren lokal miteinander, und dann entsteht etwas, das nicht so einfach aus den einzelnen Teilchen erklärt werden kann“, schildert Priesemann.

Ein Beispiel dafür ist ein Vogelschwarm. Einzelne Vögel fliegen mit einem bestimmten Abstand zueinander, und daraus entsteht ein Muster, das von niemandem vorher geplant oder beabsichtigt war. Solche Phänomene finden sich in allen Größenordnungen wieder – von Galaxien über Wolken bis zu neuronalen Netzen im Gehirn, selbst menschliches Miteinander und gesellschaftliche Dynamiken können teils mit solchen Modellen erklärt werden.

Das Institut hat die zwei großen Abteilungen Fluidphysik, Strukturbildung und Biokomplexität sowie die Physik lebender Materie. Eine dritte Abteilung ist zurzeit unbesetzt. Organisiert sind die Abteilungen in einzelnen Forschungsgruppen mit einem jeweils eigenen Fokus. Zusätzlich gibt es vier freie Forschungsgruppen, die keiner der Abteilungen zugeordnet sind. Zu ihnen gehört auch Priesemanns Forschungsgruppe. „Wir nutzen theoretische Physik, um lebende Systeme wie das Gehirn und auch Aspekte von Gesellschaftsdynamik zu verstehen“, erzählt Priesemann über ihre Forschung.

Natürlich gibt es viele Unterschiede zwischen Musterbildung im Gehirn und Musterbildung in Gesellschaften, aber auch Gemeinsamkeiten. Priesemann erklärt: „Unser Bewusstsein fokussiert vor allem die Unterschiede, aber das heißt nicht, dass wir nicht zu zuallererst die Gemeinsamkeiten verstehen sollten, und das haben wir noch nicht.“

Auch bei den Forschungsthemen des Instituts stechen zunächst die Unterschiede ins Auge. Zellen, Wolkenformationen, Gehirne, Strömungen in der Atmosphäre – all das hört sich erst mal sehr unterschiedlich an. Doch obwohl die Forschung innerhalb des Instituts sehr divers ist, gibt es doch die gemeinsame Frage danach, wie komplexe Strukturen aus dem Nichts entstehen.

Einzelne Vögel fliegen mit einem bestimmten Abstand zueinander und bilden ungeplante Muster

Neben dieser verbindenden Frage gilt am Institut und allgemein in der Max-Planck-Gesellschaft das Motto „Köpfe statt Themen“. Wichtiger als die Förderung spezifischer Themen ist die Unterstützung von Personen, die das Potenzial haben, die Wissenschaft voranzubringen. Priesemann betont hier die Bedeutung von Gleichstellung: „Ich würde mir wünschen, dass die Frauen in der jüngeren Generation noch mehr Selbstbewusstsein haben, in technische und quantitative Felder zu gehen.“

Karima Küster