„Ich vermisse Russland nicht“

Putin, der Krieg und die verpassten Chancen. Irina Scherbakowa im taz-Gespräch über bröckelnde Solidarität mit der Ukraine im Westen und das Werk der Ost­europa-Expertin Anne Applebaum

Porträt Irina Scherbakowas, sie steht vor einer Säule in Berlin,. Trägt Brille, schwarzen kragenlosen Pullover und einen offenen braunen Mantel

Friedensnobelpreisträgerin Irina Scherbakowa im Oktober in Berlin Foto: Doro Zinn

Interview Andreas Fanizadeh

taz: Frau Scherbakowa, woher kommen Sie gerade?

Irina Scherbakowa: Ich war auf Einladung der tschechischen Regierung in Prag bei einer Veranstaltung mit Memorial. Oleg Orlow, der im August bei dem Gefangenenaustausch freikam, eröffnete die Ausstellung über politische Gefangene in Russland. Auch Olga Misik war da, deren berühmtes Foto man auch in Prag kennt. Sie ist zum Symbol des Widerstands geworden.

taz: Welches Foto?

Scherbakowa: Die Aufnahme zeigt die 17-jährige Olga, wie sie 2019 vor den Sondereinheiten der russischen Polizei auf der Straße sitzt. Sie protestierte gegen den Ausschluss unabhängiger Kandidaten von den Regionalwahlen. In den Händen hielt sie den Text mit dem Paragrafen zur Meinungsfreiheit aus der Verfassung. Dafür bekam sie zwei Jahre Hausarrest und musste Russland dann verlassen. Jetzt lebt sie in Deutschland. Die Tschechen und wir haben eine gemeinsame Geschichte mit dem Sowjetregime. Die Anteilnahme für die Situation der politischen Gefangenen in Russland ist groß. Wir waren auch an tschechische Schulen eingeladen. Dabei konnten wir feststellen, dass vielen Jugendlichen die Kriegssituation und die Bedrohung durch Russland sehr nahe geht.

taz: In Russland ist die Menschenrechtsorganisation Memorial verboten. Wie sieht Ihre Arbeit im Exil aus?

Scherbakowa: Memorial leistet generell Aufklärung über die Zeit des Stalinismus und der KP-Herrschaft. Wir sammeln Informationen, werten Dokumente aus. Es gibt ein Netzwerk mehrerer Organisationen. In Tschechien existiert eine eigene Memorial-Organisation.

taz: Wie lange leben Sie selber jetzt schon im Exil?

Scherbakowa: Ich habe Russland am 7. März 2022 verlassen. Seit Juli 2022 bin ich in Deutschland.

taz: Vermissen Sie Moskau?

Scherbakowa: Um ganz ehrlich zu sein: Nein. Ich vermisse das heutige Russland nicht. Was ich vermisse, das ist unsere Arbeit bei Memorial, meine Freunde und Kollegen, die noch dort sind. Für mich stellt der Tag des Angriffs auf die Ukraine, der 24. Februar 2024, eine bis dahin kaum vorstellbare Katastrophe dar. Der Überfall hat vieles zerstört. Etwa die Hoffnung, dass Russland sich zu meinen Lebzeiten noch demokratisch entwickeln würde.

taz: Sie hatten die negative Entwicklung unter Putin beobachtet und früh gewarnt.

Scherbakowa: Mit Putins Machtantritt wurde es gefährlicher, autoritärer. 2014 kam die Annektion der Krim. Dann der Angriff auf den Donbass. Doch auch Historiker sind Menschen, man wollte sich nicht vorstellen, dass er so einen Krieg beginnt. Ab Spätsommer 2021 war es offensichtlich, dass er den Überfall auf die Ukraine plant.

taz: Parallel zur Aufrüstung stieg der Druck auf die russische Menschenrechtsszene?

Scherbakowa: Memorial wurde bereits 2017 zum „ausländischen Agenten“ erklärt, wurde ständig attackiert. Der Oberste Gerichtshof der Russischen Föderation liquidierte Memorial International im Dezember 2021. Im Februar erfolgte der Überfall auf die Ukraine.

taz: Unmittelbar nach dem russischen Angriff sagten Sie uns im Interview, Kyjiw anzugreifen sei etwas anderes als die Krim. Sie hofften, Putin könnte sich verspekuliert haben.

Scherbakowa: Ich hoffte, mehr Menschen würden auf die Straße gehen und protestieren. Es gab Demonstrationen, Tausende wurden verhaftet, aber wir waren nicht stark genug. Ich hätte mir gewünscht, dass der Westen viel schneller, viel entschlossener reagiert. Ich habe Russland nicht aus Furcht, sondern aus Zorn verlassen. Wegen der Unmöglichkeit, meine Arbeit fortsetzen zu können. Viele Menschen, die gegen Putin und den Krieg sind, haben Russland verlassen. Ich wollte mich auch nie wieder zum Schweigen bringen lassen, wie das in der Sowjetzeit war. Mein Mann und ich haben uns nie in die Emigration zwingen lassen. Nicht in den 1970ern, nicht in den 1980ern. Dieses Mal haben wir die Koffer gepackt, den Hund genommen und sind raus. Die Kinder waren zum Glück schon weg. Ich habe Russland und Moskau genau 100 Jahre später verlassen, als meine Großeltern nach Moskau gezogen waren.

taz: Die stammten woher?

Scherbakowa: Aus einer kleinen Stadt im Grenzgebiet von Belarus und Ukraine. Die ganzen Archive, die Bücher, Möbel der Familie musste ich jetzt zurücklassen. Manchmal bringen mir Vertraute einzelne besonders wichtige Unterlagen.

taz: Sind Sie direkt nach Deutschland?

Scherbakowa: Nein. Wir waren für diesen Fall einmal privilegiert und konnten rasch die israelische Staatsbürgerschaft bekommen. Wir haben Verwandte in Israel, aber nie gedacht, selber einmal in die Lage zu kommen, den Pass zu brauchen.

taz: Warum gingen Sie nach Deutschland?

Scherbakowa: Ich bin Haus aus Germanistin. Bei Memorial haben wir seit Jahren eng mit deutschen Historikern, Gedenkstätten und Stiftungen zusammengearbeitet. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns verbunden, Kriege und Diktaturen. Ich erhielt nun ein Stipendium, Kollegen und Freunde unterstützen mich. Ich war ein Jahr in Weimar; und dort über das Imre Kertesz Kolleg tätig. Ich bin sehr dankbar für die Hilfe. Inzwischen haben wir mit unseren Moskauer Kollegen und den Mitstreitern in Deutschland eine Memorial Organisation in Berlin gegründet: Zukunft Memorial. Wir versuchen unsere Arbeit fortzusetzen, auch Bildungsprojekte mit Schülern, wie wir das in Russland machten. Nun unter anderen Bedingungen, mit Jugendlichen, die verstreut über die russische Diaspora in vielen Ländern sind. Die Körber-Stiftung unterstützt uns dabei.

taz: Wie ist die Situation für die in Moskau Gebliebenen?

Scherbakowa: Memorial Interna­tio­nal wurde liquidiert, unser Haus in Moskau wurde uns weggenommen, aber es gibt unsere Kollegen dort immer noch. Wir tauschen uns aus, bleiben eng verbunden, machen uns aber große Sorgen um sie. Sie stehen unter starkem Druck.

taz: Fühlen Sie sich in Deutschland sicher?

Scherbakowa: Ja, ich habe keine Angst; bin auch keine Politikerin. Die Gefahr für russische Politiker und Oppositionelle ist eine andere. Es gab in Berlin diesen Mord im Tiergarten. Und Morde in London. Und natürlich die ständigen Versuchen in die deutsche Politik über Social Media einzugreifen.

taz: In Frankfurt am Main werden Sie am 20. Oktober in der Paulskirche die Laudatio auf die Historikerin Anne Applebaum halten. Sie wird mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Sie lernten Applebaum in Moskau kennen?

Scherbakowa: Ich habe Anne Apple­baum Anfang der 2000er Jahre bei Memorial kennengelernt. Sie recherchierte für Ihr Buch „Der Gulag“, nutzte dafür auch unsere Materialien und Kontakte, um Zeitzeugen zu treffen. Sie hat ein gutes Gespür für die wichtige Themen zur richtigen Zeit. Bei Memorial sammelten wir alles, was mit der Geschichte des politischen Terrors in der Sowjetunion zu tun hat. Erinnerungsberichte, Dokumente, Studien, Bücher, legten Verzeichnisse zu Lagern und Insassen an – ein riesiger Fundus. Anne Applebaums „Der Gulag“ ist ein hervorragendes Buch. Sehr gut lesbar wurde es ein internationaler Bestseller, auf Russisch erschien es 2004.

taz: Applebaum hat später über den Holodomor geforscht, der großen Hungersnot, der in der Ukraine Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Scherbakowa: Dieses Buch erschien 2017. Davor hat Anne Applebaum aber noch eines über den Kalten Krieg verfasst. Sie schrieb das Buch über die Massenhungersnot in der Ukraine, als im Westen davon kaum etwas bekannt war. Die Massenhungersnot in der UdSSR Anfang der 1930er hatte Stalin organisiert. Über das Thema wurde in der UdSSR der Mantel des Schweigens ausgebreitet. Fast jede ukrainische Familie hat eine tragische Erinnerung daran. Stalins Politik brach mit all ihrer Grausamkeit über die Ukraine herein. Es war auch die Rache für den Widerstand gegen die Kollektivierung. Wir hatten die letzten 20 Jahre ein kleines Sommerhaus in der Ukraine, eine Stunde von der Stadt Poltawa entfernt. Die Erinnerung an den großen Hunger ist dort bis heute sehr präsent. Ebenso wie die Zeit an die deutsche Besatzung. Mil­lio­nen sowjetische Zwangsarbeiter wurden nach Deutschland verschleppt, die meisten stammten aus den Orten der Ukraine.

taz: Anne Applebaums aktuelle Schrift heißt „Die Achse der Autokraten“. Russland ist heute im Bündnis mit Staaten wie Iran und Nordkorea. Dazu haben wir die Ficos und Orbáns, AfD und BSW. Zu Zeiten der Sowjets war alles noch etwas übersichtlicher?

Scherbakowa: Schon die Sowjets verknüpften stark Außen- mit Innenpolitik. Sie wussten genau, wie man Ressentiments gegen die Demokratien weltweit schürt. Putin hat aber zweifellos die Bevölkerung auf eine neue expansive Volks- und Reichsidee eingestellt. In der Wahl seiner Verbündeten ist er völlig skrupellos. Der Westen wollte das lange nicht wahrhaben. Wir haben davor gewarnt. 2008 griff er Georgien an. 2014 die Krim. Beide Male stellte er den Westen dabei auf die Probe. Und da kam nichts.

taz: Hätte er sich denn beeindrucken lassen?

Scherbakowa: Ich glaube, es gab Chancen, hätte der Westen viel früher entschlossen reagiert, auch mit Sanktionen. Seiner Aggressivität kann man nur mit eigener Stärke begegnen. Eine andere Sprache akzeptiert er nicht. Aus Furcht, Bequemlichkeit oder wirtschaftlichen Interessen hat man weggeschaut. Das war milde gesprochen kurzsichtig. Heute zahlt man einen hohen Preis dafür.

taz: Halten Sie es für aussichtsreich, mit dem Aggressor jetzt zu verhandeln?

Scherbakowa: Es gab Verhandlungen, die Verträge Minsk I und II. Er hat sie alle gebrochen. So lange Putin meint, zu gewinnen, ist es sinnlos.

Die Bürgerrechtlerin wurde 1949 in Moskau geboren. Germanistin und Historikerin. Mitbegründerin von Memorial, 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Autorin von „Die Hände meines Vaters“.

Als Laudatorin wird sie am 20. Oktober zur Auszeichnung Anne Applebaums mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2024 in der Paulskirche in Frankfurt am Main sprechen. Die Ehrung schließt traditionell die Frankfurter Buchmesse ab. Letztjähriger Preisträger war der Autor Salman Rushdie. www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/

taz: Manche glauben, er hätte die Ukraine überfallen, weil er sich bedroht fühlte. Was meinen Sie, fühlt er sich mehr von der Demokratie oder mehr von der Nato bedroht?

Scherbakowa: Von alldem was Demokratie und Freiheit bedeuten. Von jeglicher liberalen westlichen Lebensweise. Der Westen ist sein Feind. Nach ihm verkörpert der Westen Dekadenz und Verderbtheit, Russland hingegen verteidigt nur seine „Werte“. Er ist absolut homophob, hasst Feminismus. Er setzt auf Nationalismus, Tradition und Militarismus. Die angebliche Gefahr durch die Nato ist ein reiner Popanz. Finnland ist über Jahrzehnte neutral geblieben. Erst jetzt nach dem Überfall auf die Ukraine schloss es sich der Nato an. Schweden auch. Die baltischen Republiken sind früh beigetreten, um sich zu schützen. Nein, Putin versucht mit brutaler Gewalt die proeuropäische, demokratische Entwicklung der Ukrai­ne zu zerstören. Seine Armee begeht unglaubliche Kriegsverbrechen. Sie bombardieren Theater mit Kindern wie in Mariupol, beschießen Kinderkrankenhäuser, foltern Kriegsgefangene – Tausende und Abertausende Kriegsverbrechen sind seit Beginn des Überfalls dokumentiert.

taz: Die Menschen in Russland, werden die nicht kriegsmüde?

Scherbakowa: Doch. Aber die Masse ist eher fatalistisch, passt sich an, schaut weg. Als plötzlich Kämpfe auch in Kursk waren, schreckten einige auf. Aber das bedeutet nicht, dass Menschen nun massenhaft gegen Putin sind. Er hat immer noch die Mehrzahl hinter sich. Die Bereitschaft der Propaganda zu vertrauen, ist weiter vorhanden. Die Propaganda rechtfertigt den Krieg. Und der Glaube daran entlastet von jeglicher individuellen Verantwortung.

taz: Ideologie allein macht aber nicht satt?

Scherbakowa: Stimmt. Aber wer sich freiwillig zum Krieg meldet, kriegt zum Beispiel in Moskau sofort eine Prämie von umgerechnet 20.000 Euro. Viel Geld in Russland. Auch die Hinterbliebenen der Gefallenen werden entschädigt.

taz: Wie kann dieser Krieg beendet werden?

Scherbakowa: Nicht, indem man Putin die Ukraine als Opfer serviert. Putin versucht die Stimmung im Westen zu manipulieren. Man kann ihn meiner Meinung nach nur auf dem Schlachtfeld stoppen. Alles andere ist eine gefährliche Illusionen. Putin würde einem Waffenstillstand nur zustimmen, sofern er ihn als Sieg verkaufen kann. Er will die Ukraine als Nation zerstören. Und Europa destabilisieren. Er rüstet wie verrückt auf. Für ihn gibt es kein Zurück. Der Westen darf sich von ihm nicht erpressen lassen, darf seinen Drohungen nicht nachgeben. Sonst kann es weder Sicherheit noch einen wahren Frieden geben.