Systemkritik ohne Schärfe

In Bremen bringen Armin Petras und Nina Rühmeier das Buch „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ der albanischen Philosophin Lea Ypi auf die Bühne. Ein toller Stoff, doch die Umsetzung gelingt nicht. Schlüsselszenen werden unverständlich

Mit dem Stoff gerungen: Die Schärfe des Originals findet sich in der Bühnenfassung nicht Foto: Jörg Landsberg/Theater Bremen

Von Matthias Meisner

Es ist eine Weltpremiere. Erstmals ist das Buch „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ der albanischen Philosophin Lea Ypi auf einer Theaterbühne. In einer Fassung von Armin Petras und Nina Rühmeier feierte das Stück am Theater Bremen Premiere. Die 45-jährige Ypi erzählt in dem Buch ihre eigene Geschichte: vom jungen Mädchen, das im Glauben an „Onkel Enver“ und den Kommunismus in der albanischen Hafenstadt Durrës aufwuchs. Von ihren Eltern, die sich mit „falscher Biografie“ in Enver Hoxhas Regime durchhangelten, indem sie die Linientreue vorspielten: Erst mit der Wende 1990 eröffneten Vater, Mutter und Großmutter, dass alle in einem Freiluftgefängnis aufgewachsen seien und dass unumstößliche Wahrheiten nun nicht mehr gelten würden. Der damit einhergehende Verrat lastete schwer auf dem Kind.

Ein spannender Stoff – doch gelingt die Umsetzung auf einer Theaterbühne? Die Erwartungen vor der Premiere sind hoch: Ypi selbst ist angereist, die albanische Botschafterin in Berlin, Adia Sakiqi, sitzt im Publikum. Und für Regisseur Petras war der Stoff wie zugeschnitten: Im Alter von vier Jahren hatte ihn sein Vater 1968, kurz vor der Enttarnung als Stasi-Agent, im Sauerland ins Auto gepackt und flog gemeinsam mit ihm und seiner Frau nach Ost-Berlin. 1988 ging es per Ausreiseantrag wieder kurzfristig in den Westen. Das Leben in zwei Systemen prägt ihn bis heute.

Viele der Erwartungen werden aber enttäuscht. Schlüsselszenen im Buch werden so verkürzt und verdreht, dass sie unverständlich sind. Etwa die Geschichte vom regelmäßigen Sturm der Kinder auf die Keksfabrik auf dem Heimweg von der Schule. Bis zur Wende ergatterte jedes Kind gerade mal einen Keks, mit dem Zerfall des Landes gab es bei der sogenannten „Keksaktion“ ganze Schachteln. Der Sozialismus beruhe auf Gegenseitigkeit, tadelt im Buch Leas Vater seine Tochter, als sie mit einem Ranzen voller Kekse heimkehrt. Auf der Bühne aber skandieren die Kinder diese Parole.

So ist es auch mit dem Nachbarschaftsstreit um eine Cola-Dose. Sie landete bei den Ypis, verziert mit einer Rose, als Quasi-Devotionalie in der Schrankwand – und schmückt auch das Buch-Cover. Im Buch beschreibt Ypi die Spitzelei und das Denunziantentum. In der Bremer Bühnenversion fällt das weg. Und vollends ins Komödienhafte gleitet die Aufführung ab, als ein holländischer Weltbank-Schurke mit einem überdimensionierten Plastikkäse zwischen den Beinen über die Bühne hoppelt. Will der gelernte DDR-Bürger Petras so plump mit dem Kapitalismus abrechnen?

Dramaturgin Rühmeier gab vor der Aufführung zu: „Wir wussten alle sehr wenig über Albanien.“ Auch die eigene Ignoranz solle zum Thema werden. Gelungen ist das nur eingeschränkt. Obwohl das 2021 erschienene Buch als wichtiges Erklärstück für die Transformation Albaniens und den Übergang vom Stalin- und Hoxha-Kult zum Neoliberalismus gilt.

Ypi lehrt heute als Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics und hat seit 2020 die britische Staatsbürgerschaft. Regelmäßig wird sie als „moralische Sozialistin“ gehypt. Trotz der persönlichen Erfolgsgeschichte warnt sie in Bremen davor, ihr Buch als „Hollywood-Story“ zu lesen, wie es immer wieder geschehe.

Die Zeitsprünge im Buch machten es Petras und Rühmeier nicht leicht. Auch die 2001 in Moskau geborene Schauspielerin Sofia Iordanskaya, die gerade erst am Theater Bremen beginnt und Lea spielt, nennt es in einem Interview mit dem Weser-Kurier herausfordernd, die Entwicklung der Figur zu vermitteln: „Mal bin ich zehn Jahre alt, dann sechs, dann wieder zwölf, dann zwanzig.“ Das „fast schon apokalyptische Gefühl des Wandels“ in Albanien hat sie dennoch fasziniert – und ihre Rolle hat sie bravourös gemeistert.

Die Erwartungen vor der Premiere sind hoch. Aber viele von ihnen werden enttäuscht

Und immerhin: Petras und Rühmeier haben für die Bühne die Rolle von Leas Freundin Elona ausgebaut, wofür Ypi ausdrücklich dankt. Elona war, als Albanien 1991 völlig im Chaos versank, eines Tages nicht mehr zur Schule gekommen. Die geliebte Mitschülerin war nach Italien entkommen, dort landete sie als Sexarbeiterin auf der Straße.

Dass sie im Theater zu einem der Hauptcharaktere geworden ist, ist jedoch Stärke und Schwäche zugleich. In Bremen prangert die Ypi beim Publikumsgespräch „Doppelstandards“, „Heuchelei“ und eine „verstörende Rhetorik zum Thema Freiheit“ an. Der Westen habe Staaten, die die Bewegungsfreiheit ihrer Bür­ge­r:in­nen einschränkten, als kriminell betrachtet und Revolutionen in Ost-Berlin und im kommunistischen Albanien gefordert. Menschen, die bei der Flucht etwa aus der DDR halfen, seien im Westen als Helden gefeiert worden. Heute spreche man von Schleppern und Wirtschaftsflüchtlingen, es gebe „eine komplette Umkehr alles Gesagten“. Auf die Bühne fungiert Elona als einzige Stellvertreterin für diese Systemkritik. Damit wird ihr die Schärfe weitgehend genommen.

wieder am 20. 10., 9. 11., 20. 11. und 21. 11, Theater Bremen