Viele neue Welten aus Hamburg

Die sechs Debüts der Ausstellung „Stadt, Wald, Ozean“ fassen die Vielfalt des ganzen Hamburger Comicfestivals ideal zusammen

Cosmas van Zwavel bringt noch mehr Zutaten zusammen, als das Comicfestival Hamburg Foto: Steinmetz

Von Benno Schirrmeister

Selbe Stadt, selbes Publikationsjahr, selbe Schule. Und trotzdem können die Gegensätze im Medium Comic nicht größer sein als die der sechs Künstler*innen, die alle an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften studieren und jetzt ihren ­Graphic-Novel-Erstling vorgelegt haben. Die „Galerie Gruppe Motto“ in der Speckstraße bringt sie beim Hamburger Comicfestival, das am Freitag beginnt, in einer Ausstellung zusammen.

Sie heißt „Stadt, Wald, Ozean“ und der Titel verdeutlicht: ­Zwischen den einzelnen Graphic­ Novels, die hier in Auszügen an den Wänden hängen, gibt es nur diesen Minimalkonsens, dass in ihren Wirklichkeiten Städte, Wälder und Ozeane möglich sind. Selbst die drei eher ­realistischen Comics – Sina Arlts tagebuchartiges „Zu Besuch“, Jot Vetters Zukunftskonstruktion „re:claim“ und Kerstin Wichmanns aquarellstrategische Erkundung der eigenen Familiengeschichte „Auf schwankendem Boden“ scheinen aus unterschiedlichen Welten zu stammen.

Die drei anderen stürzen sich mit Freude in Anderswelten: Aber Lena Steffingers Orgie heller Buntstiftfarben in „Alles Gute“ kontrastiert radikal mit Noëlle Krögers ­lyrisch-waldgrüner „Meute“, die wiederum so gar nichts mit Julia Steinmetz‘ die temporeich Kobolz schlagende „Suche nach Kwik“ in einer gut ausgeleuchteten Pseudo-Renaissance hat.

Es lässt sich also in dieser Ausstellung über die Bandbreite der in Hamburg entstandenen neuen Positionen staunen. Auch bietet sie Gelegenheit, die Freiheit zu lobpreisen, zu der Anke Feuchtenberger ihre Studierenden motiviert. Andererseits kann sie höchstens neugierig machen auf die Werke, die sie zeigt: Ihren narrativen Flow entfalten Comics eben doch am besten, wenn sie, als Buch oder Heft, ihre Kon­su­men­t*in­nen ganz in Beschlag nehmen. Das gilt gerade für Julia Steinmetz‘ radikal erzählerischen Erstling. Schon dessen Titel, „Die Suche nach Kwik“ weist darauf hin, dass hier eine der Urformen des Fabulierens überhaupt genutzt wird, die Heldenreise, oh ja, und es dabei übers Meer geht, wo die Sirenen lauern.

Der Untertitel, „Erster Teil: Von Kwelling nach Swammerdam“ verspricht nicht nur eine Fortsetzung. Er macht auch klar, dass der Protagonist, der Apotheker Cosmas van Zwavel, eine Welt durchquert, die sich ähnlich wie Steam-Punk zu unserer verhält, aber nicht das Jahrhundert der Dampfmaschine, sondern das Goldene Zeitalter der Niederlande neu schreibt. Und neu kartographiert: Kwelling, der Startpunkt, bedeutet auf Holländisch so viel wie Qual. Einen Ort, der so heißt, gibt es jenseits von Steinmetz‘ Bildwelt wohl nicht. Swammerdam gibt es zwar, ist aber vor allem der Name eines Naturforschers. Jan Swammerdam war vor 350 Jahren fähig, Sachen anatomisch korrekt zu zeichnen, an die er selbst nicht glaubte, wie etwa den Aufbau der Muskulatur ­eines Froschs.

Alte naturwissenschaftlich-alchemistische Darstellungen, allegorische Stiche, auch Gemälde fließen in Steinmetz‘ Bildwelt mit ein. In ihrer anderen frühen Neuzeit ist die Gleichberechtigung der Geschlechter eine Selbstverständlichkeit. Auch technologisch ist sie in mancher Hinsicht begabter als ihr Vorbild. Dennoch ist sie kein Paradies. Ihre Fülle, Steinmetz‘ unbändige Freude an Anspielungen, die auch mal ins Leere laufen dürfen, lässt auch das Unheimliche ganz selbstverständlich zu. Sogar zentral: Zwar bäckt van Zwavel, der Held und Apotheker, hingebungsvoll Zimtschnecken und stößt, wie es sich gehört, auf einen Vertragsabschluss in der Kneipe mit Dillgurken an. Aber diese leutselige Figur hat als einzige Person kein Gesicht.

Hamburger Comicfestival

4. - 6. 10. an 20 Ausstellungs- und Veranstaltungsorten von Altona bis Innenstadt. Das Programm findet sich unter

comicfestivalhamburg.de

Ausstellung „Stadt, Wald, Ozean“, Galerie Gruppe Motto, Speckstraße 85, mit Sina Arlt, Noëlle Kröger, Lena Steffinger, Julia Steinmetz, Jot Vetter und Kerstin Wichmann, Vernissage 4. 10., 19 Uhr

Comics Noëlle Kröger: „Meute“, Reprodukt, 232 S., 26 Euro und Julia Steinmetz: „Die Suche nach Kwik – aus den Aufzeichnungen des Cosmas van Zwavel. Teil I. Von Kwelling nach Swammerdam, Schaltzeit Verlag, 104 S., 19 Euro

Dieses weiße Konterfei mit Öffnungen für Auge, Mund und Nase – das ist doch wohl ein Totenschädel. Wenn van Zwavel also voll liebender Sorge aufbricht, um den verschollenen Forschungsreisenden Aurelius Kwik zu suchen, bleibt doch sehr die Frage: Will man denn, dass dieser schwefelige Typ am Ende seinen Freund aufspürt, seinen einzigen Freund?

Wie Steinmetz gehört auch Noëlle Kröger dem Hamburger „Comic Geheimclub“ an. Krögers „Meute“ hat, nicht nur, weil er in einer fiktiven kleinen Universitätsstadt in einem fiktiven Frankreich eines fiktiven 19. Jahrhunderts spielt, einen deutlichen französischen Akzent. An Johan Sfar erinnert mitunter die Figurengestaltung, noch mehr aber die Souveränität­ des Rhythmus, also der Mut und das Selbstbewusstsein, sich immer mal wieder aus dem linearen Plot zu verabschieden. Wie Kröger die Panels arrangiert, wie das Erzähltempo dadurch variiert, wie der Poesie Raum geschaffen aber manchmal eben auch Zeit gerafft wird, das ist wirklich toll. So treibt Kröger das Verfahren auf die Spitze, die Fülle des alltäglichen Tuns in einer Vielzahl winziger quadratischer Bildchen zu erfassen. Stolze 48 solcher Miniaturen auf einer Doppelseite resümieren die Routinen der Hauptfigur Margot. Die ist eine ausgebeutete, sich aber zugleich emanzipierende studentische Praktikantin. Sie muss am renommierten Institut für Zeitgenössische Wissenschaft den eingesperrten Werwolf pflegen.

Toll ist, wie Noëlle Kröger die Panels arrangiert, mal Zeit rafft, mal, im Gegenteil, der Poesie Raum gibt

An den trauen sich die Herren Professoren höchstens ran, wenn sie ihn vorab betäubt haben. Dann hängen sie ihn als Schauobjekt in den Hörsaal und produzieren sich vor ihm, verblendet, ahnungslos, aber selbstsicher. Margot hingegen muss den Käfig reinigen, Futter und Wasser bereitstellen – und erforscht ihn dabei wirklich, unbeachtet, in Eigenregie. Mit ihr wird der Wolfsmensch sprechen. Sie dagegen wird ihn befreien, ihn zur Meute begleiten. Die Vorbehalte hat gegen den wissenschaftlichen Ehrgeiz dieser Person. Zurecht.

Kunstvoll parallelisiert der Band die voneinander getrennten Sphären: Die Möglichkeit, von der einen in die andere zu gelangen, gibt es, auch die der Verwandlung. Doch bleibt Transition ein gefährliches Unterfangen. Immer wieder lässt Noëlle Kröger den Erzählfluss in furiosen Ganz- und Doppelseitenbilder münden: Manchmal verleihen sie dem Schrecken des Gefangenseins Nachhall oder der Gewalt des forschenden Blicks, der sein Objekt zerstört. Manchmal tobt in ihnen aber auch, auf blaugrünem Grund, der grobe Kohlestift herum, dass es eine Lust ist. Und Tiere, Mond und Bäume tanzen in ihrer dunklen Freiheit.