Christa Pfafferott
Zwischen Menschen
: Der letzte Flügelschlag

Wir stehen am Bahnsteig und warten. Neben uns verlaufen zwei Schienenstrecken, auf denen Straßenbahnen in unterschiedliche Richtungen fahren. „Was ist das?“, fragt mein Gesprächspartner. Wir hören ein scharfes ­Geräusch, es klingt unangenehm, gefahrvoll. Unsere Augen wandern: Woher kommt es? Da sehen wir auf dem Gleis vor uns zwischen den Schienensträngen eine Taube. Eine helle Taube. Eine Türkentaube.

Sie zappelt, schlägt mit ihren Flügeln, sodass sie über den Boden ratschen. Sie wirft ihren Hals vor und zurück. Es ist, als würde er sich aus- und einrenken. Hat sie sich das Genick gebrochen? Es tut weh zu sehen, wie sie sich so windet. Dann wird die Taube still. Die Bewegungen hören auf. Sie sitzt zitternd da.

Es ist klar, die nächste Straßenbahn wird sie erwischen. Ich suche im Handy nach der Nummer der Stadttaubenhilfe, eine Organisation, von der ich weiß, dass sie verletzte Tiere abholt. Doch in dieser Stadt finde ich keine.

Ich schaue die Straße hinauf und hinunter, es ist keine Bahn in Sicht. Kann ich es wagen, denke ich. Aber wie fasse ich sie an? Dann fällt mir etwas ein. Ich ziehe meine Jacke aus, leere die Taschen. Es ist eine weiche Wolljacke, meine Lieblingsjacke. „Sag frühzeitig Bescheid, wenn Du hinten an der Straße eine Bahn siehst“, sage ich zu meinem Gesprächspartner. Dann trete ich zu der Taube.

Ich gehe in die Hocke, umfasse das Tier vorsichtig mit meiner Jacke und hebe sie hoch. Die Jacke bleibt dabei fast an einem Zweig hängen, der aus dem Gleis wächst. Die Taube bleibt ganz ruhig. Es ist fast, als hätte sie darauf gewartet, dass sie jemand aufhebt.

Ich spüre durch die Jacke etwas Lebendiges. Etwas Warmes, Stimmiges, fast ist es, als läge da etwas Heiliges in meinen Händen. Ich habe noch nie eine Taube gehalten. Vorsichtig steige ich über die Schiene und trage sie auf ein gegenüberliegendes Rasenstück. Als ich die Taube auf dem Gras ablege, beginnt sie wieder zu zucken. Sie schlägt mit den Flügeln um sich, verdreht den Hals. Der Kopf zuckt, so dass ich kaum zuschauen kann. Dann plötzlich beruhigt sie sich wieder. Ihr Kopf rastet ein. Sie sitzt still da. Zu still.

Foto: Andreas Dahn

Christa Pfafferott ist Autorin und Dokumentar-filmerin. Sie hat über Macht-verhältnisse in einer forensischen Psychiatrie promoviert. Als Autorin beschäftigt sie sich vor allem damit, Unbemerktes mit Worten sichtbar zu machen.

Sie wird es nicht schaffen, denke ich. Sie wird sterben. Vielleicht müsste man sie erlösen. Aber das schaffe ich nicht. Die Fahrbahn ist frei. Ich gehe wieder über die Schienen zurück.

„Hattest Du keine Angst, dass sie dich beißt“, fragt mich der Freund. „Dass sie mit dem Schnabel zuschnappt?“ Komisch, denke ich. Daran hatte ich gar nicht gedacht. In dem Moment in meinen Händen schien die Taube so weit davon entfernt, mich zu verletzen. Aber ja, was hätte passieren können.

Wir steigen in die Bahn und fahren zu einem Konzert. Und noch später, als ich umhüllt von Musik und Menschen da stehe, denke ich an die Taube. An dieses Gefühl, als ich sie hielt. Wie warm und weich sie sich durch die Jacke anfühlte. Plötzlich treten Bilder vom Heiligen Geist in meinen Kopf, der so oft durch eine Taube, gehalten von Händen, dargestellt wird. Was war an dem Erlebnis so besonders? Wie es der Taube jetzt wohl geht?

Später erzähle ich einer Freundin von der Taube: „Bist Du sicher, dass sie nicht gerade auf das Gleis wollte“, fragt sie und lacht etwas. „Vielleicht wollte sie ja sterben. Vielleicht hat sie sich ja den ganzen Tag dorthin geschleppt.“

Ich blicke sie an. Ja, warum nicht, denke ich dann. Erst einmal ist es eine bizarre Vorstellung. Aber auch eine, die mein Denken ­umstellt.

Vielleicht ist es tatsächlich ja gar nicht so richtig, die Dinge in Ordnung bringen zu wollen

Vielleicht ist es tatsächlich ja gar nicht so richtig, die Dinge in Ordnung bringen zu wollen. Etwas zu retten. Und sich womöglich selbst sogar damit noch in Gefahr zu bringen.

Vielleicht stand die Taube auch für etwas ­anderes. Wir bringen eine Kraftanstrengung auf, um jemanden zu retten und auf die vermeintlich sichere Seite zu bringen. Doch wann ist das richtig? Vielleicht ist das ja gerade der Untergang. Für beide.