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: Sich ein letztes Mal geil finden

Mit hohen Zielen ist die Ampel in ihr Amt gestartet. Dass sie noch gut regieren kann, glaubt sie selbst nicht mehr. Will sie ihrem Anspruch einmal gerecht werden, muss sie zurücktreten

Von Moritz Müllender

Am Tag der Deutschen Einheit ist Deutschland uneins. Die Ampelregierung ist wie Joe Biden: schnell alt geworden. Das Aufbruchsgefühl mit Selfie von 2021 ist längst verflogen. Und bevor jetzt gleich alle schreien: „Das kann man doch nicht vergleichen!“, doch, kann man. Denn noch eins hat das Ampeltrio Scholz, Habeck und Lindner mit dem Nochpräsidenten Biden gemeinsam: Nur mit ihrem Rücktritt können sie noch gestalten. Biden hat diese Weisheit – wenn auch widerwillig – bewiesen. Das Ampeltrio sollte das auch.

Aktuell behakeln sich SPD, Grüne und FDP, wo immer es geht. Jeder scheint nur darauf zu warten, dass ein Koalitionspartner hinschmeißt. Die Grünen haben gerade ihre Ambitionen für die Legislaturperiode mit dem Rücktritt der Parteiführung über Bord geworfen und drehen auf Wahlkampfkurs. Scholz stimmt einem Bürger zu, der die Ampel als Kindergarten bezeichnet. Und Lindner und die SPD zerlegen sich über die Rente. So lange nerven, bis jemand sie rauswirft, das scheint die Devise der FDP zu sein.

Denn Lindner selbst will die Ampel offenbar nicht aufkündigen, wohl auch wegen seiner Erfahrungen aus den Jamaika-Verhandlungen 2017, die er abbrach und dafür heftige Kritik einsteckte. Lindner will nicht noch mal der Verantwortliche für ein Koalitions-Aus sein. Er ahnt wohl: Wenn jetzt eine Partei hinschmeißt, wird ein Hauen und Durchstechen zwischen den Ampelparteien beginnen: Wer ließ die Regierung platzen? Wer forderte Unrealistisches? Wer ließ es an Regierungsverantwortung mangeln? Die Ampel würde sich nach ihrem Scheitern gegenseitig abwärts zerren. AfD, BSW und Union müssten nur wenig nachtreten und würden massiv profitieren.

Da wäre es noch besser, die Ampel rettete sich streitend über den Rest ihrer Regierungszeit. Doch auch das wäre wohl gefundenes Fressen für CDU, AfD und BSW. Bleibt ein letzter Weg: Loslassen und das eigene Scheitern eingestehen. Es braucht einen finalen gemeinschaftlichen Moment. Lindner, Scholz und Habeck müssen sich öffentlich eingestehen: Wir haben es nicht geschafft. Meinetwegen auch noch einmal mit Selfie.

Das wäre risikoreich. Es könnte passieren, dass die übrigen Parteien noch mehr auf der Ampel rumhacken; dass die Bevölkerung das Eingeständnis als letzten Beweis der Unfähigkeit von SPD, Grünen und FDP sieht. Es wäre aber auch mutig und könnte neuen Schwung geben.

Die Ampel – nur noch ein Schatten ihrer selbst Foto: Hans-Christian Plambeck/laif

Die anderen Wege stärken fast sicher die Reaktionären des BSW und die Rechtsextremen der AfD. Ein gemeinsamer Rücktritt hingegen wäre eine Chance. Die Parteien würden sich lernbereit zeigen und deutlich machen, dass sie den Unmut der Bevölkerung gehört haben; dass sie nicht um der Macht willen an ihren Ämtern kleben. Der Rücktritt der Grünen-Spitze und die wohlwollenden Reaktionen darauf sind ein Hinweis, dass solch ein Schritt vielen auch Respekt abringen könnte.

Ein Nebeneffekt der Neuaufstellung wäre zudem – und ja, auch hier vergleiche ich wieder mit den USA –, dass es für AfD und BSW schwerer würde durchzudringen. Die Kampagnen von AfD und BSW würden in den Hintergrund treten. Das Ringen um Personal und Positionen in der Ampel würde zum Topthema.

Klar, neue Gesichter sind nicht alles, Rücktritte noch keine Politik. Es braucht auch inhaltliche Neuaufstellungen. Das aktuelle Personal kann das jedoch offenkundig nicht mehr leisten. Ricarda Lang und Omid Nouripour haben das verstanden. Nun muss es auch die Regierung verstehen. Nur wenn sie gemeinsam mit dem Ampeldesaster abschließen, können SPD, FDP und Grüne einen fairen Wahlkampf unter De­mo­kra­t*in­nen führen, der AfD und BSW möglichst klein hält. Dass das dann auch passiert, dafür gibt es keine Garantie. Es wäre aber immerhin eine Möglichkeit. Würden sie gemeinsam ihr Scheitern eingestehen, könnte die Ampel noch einmal Fortschrittskoalition sein.