Grenzen sind so 19. Jahrhundert

Nicht mehr nur Rechte wollen Deutschlands territoriale Ränder abschotten, auch viele Demokraten. Das erinnert an historische Debatten um nationale Souveränität – und zeigt: Grenzen sind vor allem soziale Konstrukte

Auch 1950 waren Grenzen verhasst: Deutsche und französische Studierende zerstören Grenzpfähle zwischen Wissembourg und Sankt Germanshof Foto: dpa/SZ Photo

Von Sarah Frenking

Nur wenige Tage nach der Ausweitung von Grenzkontrollen Mitte September bebilderte der Spiegel die „Neue Härte in der Migrationspolitik“ mit einer von vermummten Polizisten umringten Innenministerin. Etliche Artikel zitierten den Chef des BKA, der vom bereits erfolgreichen Kampf gegen Schleuser sprach.

Keine Frage, die medienwirksame Ausweitung von Grenzkontrollen hängt mit der rassistischen Mobilmachung der gesellschaftlichen Mitte in der sogenannten Migrationsfrage zusammen. Darüber hinaus führen die Maßnahmen zu einer Renationalisierung von Grenzen.

Das, was hier so medienwirksam in Szene gesetzt wird, ist die Erinnerung daran, dass zur Nation ein Territorium gehört, dessen polizeiliche Kontrolle alle Angehörigen der vorgestellten nationalen Gemeinschaft angeht. Dies etabliert nach Jahrzehnten europäischer Freizügigkeit nun ausgerechnet die Ampelregierung. Jenseits linker Warnungen vor dem Eingriff in das Asylrecht gibt es daran kaum umfassende Kritik.

Ähnliche Maßnahmen führten Ende des 19. Jahrhunderts zu grundlegenden, erhitzten Debatten. Dabei musste das Verhältnis des Staates zu seinem Gebiet in diesem Zeitraum erst bestimmt werden. Staatsrechtler wie Georg Jellinek, Paul Laband oder Hugo Preuß konstatierten die „Notwendigkeit eines abgegrenzten Gebiets für das Dasein des Staates“, dass also der Staat durch sein Territorium verkörpert werde.

Preuß formulierte, „eine Verletzung des Reichsgebiets“ sei „eine Verletzung des Reichs selbst“ und entspreche somit eher „einer Körperverletzung, nicht einem Eigentumsdelikt.“ Dies machte Grenzüberschreitungen überhaupt erst zu einer gravierenden Angelegenheit.

Auch polizeiliche Kontrollen – wie sie nun an allen deutschen Außengrenzen vorgesehen sind – waren alles andere als selbstverständlich, zumal sich die moderne Polizei erst entwickelte. Als 1888 an der deutsch-französischen Grenze aufgrund außenpolitischer Spannungen eine Passkontrolle eingeführt wurde, folgten aufgebrachte Reaktionen. Die Grenzpolizei prüfte die Staatsangehörigkeit von Reisenden, die diese jedoch oft nicht einmal selbst kannten. Das lag an komplizierten Regelungen in Elsass-Lothringen, für Frauen auch an Heirat, aber auch an dem, was in der Forschung als nationale Indifferenz bezeichnet wird. Vor allem bürgerliche Reisende beschwerten sich, wie etwa ein Mann, der laut Frankfurter Zeitung bei der Passkontrolle „in einer Weise behandelt wurde, als ob er irgend eines Verbrechens verdächtig wäre“. Deutsche und französische Zeitungen kritisierten immer wieder die Willkür des polizeilichen Vorgehens.

Vor allem aber galten die Passmaßnahmen als unmodern. Im Reichstag verglich ein elsässischer Abgeordneter, die Maßnahme mit Verhältnissen in Russland, „das man bis dahin als ein halb barbarisches Land angesehen hat“. Zeitungen warnten, dass Deutschland „in den Ruf eines ‚wilden Landes‘“ komme und dass die Passpflicht „zu den Verkehrsverhältnissen der Jetztzeit in grellem Widerspruch“ stehe.

Diese Kritik wird nur verständlich, wenn man bedenkt, dass seit der Reichsgründung 1871 Pässe an der Grenze weder für Staatsangehörige noch für Ausländer nötig waren. Generell wurden im 19. Jahrhundert Reisende eher im Landesinneren kontrolliert, sozialer Status war wichtiger als Nationalität und Migration wurde durch Ausweisungen reguliert. Somit erschien die polizeiliche Kontrolle als unzeitgemäß und warf grundlegende Fragen nach einem „zivilisierten“ Umgang mit der Grenze auf.

Ein Einwand findet sich ähnlich auch heute: der ökonomische Nachteil. So wie derzeit Pend­le­r:in­nen und Wirtschaftsverbände Grenzkontrollen innerhalb der EU als belastend bezeichnen, bemängelte etwa das Berliner Tageblatt den „verderblichen Einfluss auf Handel und Industrie“, die internationale Kundschaft bliebe aus und Rohstoffe erreichten ihr Ziel nicht mehr. Eine Kritik an Grenzkontrollen überhaupt war und ist damit jedoch nicht verbunden.

Die Passmaßnahme von 1888 wurde drei Jahre später wieder aufgehoben. Doch der mediale Fokus auf Grenzpolizei und Grenzzwischenfälle führte zunehmend zu einer Nationalisierung der Grenze. Mit technisch immer schnellerer Berichterstattung wurde es nicht nur für die Außenpolitik notwendig, sich mit dem „Grenzverletzungsproblem“ auseinanderzusetzen. Auch für die Öffentlichkeit wurde die Grenze und ihre Überschreitung immer relevanter. Bilder und Berichte erreichten Le­se­r:in­nen in allen Teilen des Deutschen Reichs und etablierten überhaupt erst, dass Grenzkontrollen von nationaler Relevanz waren.

Auch heute zeigen Pressefotos Hoheitszeichen oder Polizisten, die Autos durchsuchen, und Reportagen berichten von „vor Ort“ über Verhaftungen und Zurückweisungen. Es gibt wieder eine Aufmerksamkeit für die territorialen Ränder der Nation. Während es zuletzt vor allem „Freie Sachsen“ oder „Identitäre“ waren, die immer wieder Grenzabsperrungen simulierten, sind es nun offizielle politische Maßnahmen, die die Grenzen derart ins Bewusstsein rücken.

Sowohl für heute wie damals heißt dies allerdings nicht, dass Grenzen sich tatsächlich umfassend überwachen ließen. Der Rede von „massiven Zurückweisungen“, stehen 3.800 Kilometer Grenze gegenüber, die insgesamt nur sporadisch kontrollierbar sind. Und dennoch hält sich die Rede vom „Öffnen“, „Schließen“ oder gar von der Grenze als Mauer.

Passpflicht stünde „zu den Verkehrs-Verhältnissen der Jetztzeit in grellem Widerspruch“

Diese Metaphern sind zentraler Bestandteil des nationalen Spektakels, weil sie verschleiern, dass Grenzen eine Praxis sind, die Menschen durchsetzen und eine Erfahrung, die Menschen machen. Wie diese aussehen, ist jedoch Teil eines gesellschaftlichen Deutungskampfes.

Und hier sehen wir eine Entwicklung, die der Nationalisierung der Grenzen des ersten deutschen Nationalstaates ähnelt. Rechtliche Normen – heute die europäische Freizügigkeit, damals die Passfreiheit – werden durch Ausnahmeregelungen außer Kraft gesetzt.

Grenzkontrollen machen das Territorium zu einer Sache des nationalen Interesses. Dies bedeutet nicht nur einen massiven Eingriff in die Bewegungsfreiheit zahlreicher Menschen und die Zurückweisung von Geflüchteten.

Unter Rückgriff auf die Polizei wird wieder eine nationale Gemeinschaft beschworen, die sich ihrer Grenzen bewusst sein soll. Das ist ein Appell, der nichts Gutes verheißt.