Ideologische Festigkeit nach Art von Xi Jinping

Zum 75. Jahrestag der Staatsgründung haben in der Volksrepublik China Missgunst und Feindseligkeit die Weltoffenheit und Neugier der Nullerjahre abgelöst

Riesiger Blumenkorb zur Feier der Staatsgründung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in PekingFlorence Lo/reuters Foto: Foto:

Von Fabian Kretschmer, Seoul

Als Mao Tsetung am 1. Oktober 1949 um genau drei Uhr nachmittags die Volksrepublik China ausrief, hätte sich wohl niemand vorstellen können, dass auch 75 Jahre später sein überlebensgroßes Porträt über den Platz des Himmlischen Friedens wachen würde. Nun wird das Land mit Xi Jinping erneut von einem Alleinherrscher mit absoluter Machtfülle angeführt. „Er ist ein Mann voll von Überzeugung“, sagt Desmond Shum, der in den Nullerjahren als führender Bauentwickler mit der Parteiführung in Peking verkehrt hat und mittlerweile in Großbritannien lebt. „Seine Vision für China ist, die wichtigste geopolitische Macht zu werden, die mit den USA konkurriert. Er glaubt, dass die Kommunistische Partei Chinas der ewige Herrscher der chinesischen Nation sein sollte.“

Doch wenn die Volksrepublik am 1. Oktober ihren 75. Geburtstag begeht, dann gibt es für die meisten der 1,4 Milliarden Chinesen wenig zu feiern: Die Jugendarbeitslosigkeit befindet sich auf einem Rekordhoch, der schwache Konsum hat sich seit der Pandemie nicht mehr wirklich erholt, und die Immobilienkrise hat innerhalb der Mittelschicht zu einem empfindlichen Wohlstandsverlust geführt. Fakt ist: Die Jahre des wirtschaftlichen Booms und des uneingeschränkten Grundoptimismus sind vorüber.

Geht dem ostasiatischen Drachen die Puste aus? Für Xi Jinping, den mächtigsten Staatschef seit Staatsgründer Mao, hat die Transformation seines Heimatlandes wohl gerade erst angefangen. Denn in seiner dritten Amtszeit arbeitet der 71-Jährige mit Hochdruck daran, den Jahrzehntelang gültigen Gesellschaftsvertrag der kommunistischen Partei grundlegend zu ändern.

Ein Rückblick: Seit Deng Xiaoping, Parteichef von 1979–97, das Land mithilfe marktwirtschaftlicher Reformen aus bitterer Armut heraushievte, legitimierte sich die KP vor allem durch ihre pragmatische Politik. Das chinesische Versprechen lautete: Solange die Partei für stetig wachsenden Wohlstand sorgt, würde die Masse auf ihr Recht auf politische Mitbestimmung verzichten. Und die KP lieferte ab: Der Reichtum kam, wenn auch höchst ungleich verteilt, in rasanter Geschwindigkeit beim Volk an. Von 1980 bis 2010 wuchs das Bruttoinlandsprodukt der Volksrepublik im Schnitt um knapp 10 Prozent – jedes Jahr.

Doch die Zeiten des Booms sind längst vorbei, Ökonomen warnen gar vor einer langwierigen Talfahrt, wie sie auch Japan in den 1990ern ereilte. Für Xi ist das verlangsamte Wachstum jedoch ein Preis, den er ganz bewusst zu zahlen bereit ist.

Denn dem Parteisekretär und überzeugten Kommunisten geht es vor allem um ideologische Treue und nationale Sicherheit. Statt Reichtum verspricht er seinem Volk wieder vermehrt patriotisches Selbstbewusstsein. In seiner Vision des „chinesischen Traums“ soll die „verweichlichte“ Jugend den Gürtel enger schnallen, um für einen erstarkten, sozialistischen Staat zu arbeiten, der zwar technologische Errungenschaften hervorbringt und selbstbewusst auf der diplomatischen Bühne auftritt, jedoch für das Individuum nicht mehr das Versprechen auf Reichtum verheißt. Ganz im Gegenteil: Xi hat in seinen Reden immer wieder deutlich gemacht, dass er einen „dekadenten“ Sozialstaat nach europäischem Vorbild ablehnt. Denn dieser würde die „Arbeitsmoral“ des Volkes schwächen.

Wie die Chinesinnen und Chinesen über den Kurs ihrer Parteiführung denken, lässt sich nur schwer erfassen; allein schon, weil öffentliche Kritik an der Zentralregierung mit harten Repressionen geahndet wird. Doch viele Unternehmer haben in den letzten Jahren mit den Füßen abgestimmt: Zu Hunderttausenden sind sie nach Singapur, Japan und in die USA emigriert. Auch die Jugend in den Ostküstenmetropolen zeigt sich frustriert ob der wirtschaftlich durchwachsenen Aussichten und einer Partei, die sich mit ihren Wertvorstellungen immer offensiver in den Alltag der Menschen einmischt.

Auf den sozialen Medien beschreibt die urbane Jugend die Gegenwart gar als „historische Müll-Zeit“ – eine Anspielung auf den Ausspruch „garbage time“, mit dem US-amerikanische Sportkommentatoren die letzten Minuten eines Basketballspiels beschreiben, wenn eine Mannschaft so weit zurückliegt, dass sie nicht mehr gewinnen kann.

Doch in den Provinzen zeigt sich ein anderes Bild. Dort hängen nach wie vor Mao-Porträts in den Wohnzimmern der Leute, und Xi Jinping wird nicht selten wegen seiner rigiden Antikorruptionskampagnen ebenfalls gepriesen. Zudem wiederholen die Leute mit stolz die Propagandapunkte der Staatszeitungen: China sei dank der schützenden Hand der Partei das sicherste Land der Welt, während im Ausland Krieg und Chaos herrsche.

Der Blick auf den Rest der Welt hat sich unter der Ägide Xis gewandelt. Herrschten noch in den Nullerjahren Weltoffenheit und Neugierde vor, dominiert nun Misstrauen bis Feindseligkeit die Wahrnehmung. Auch in Peking lässt sich die Isolation mit bloßen Augen beobachten: Die Touristen kehren zwar nach den Jahren der „Null Covid“-Politik allmählich zurück, doch die Anzahl an Expats in der chinesischen Hauptstadt ist deutlich gesunken.

Vom Westen hat sich das Land in den letzten Jahren immer stärker abgewandt. Die USA werden zwar aufgrund ihrer militärischen und wirtschaftlichen Stärke notgedrungen respektiert, doch innerhalb Pekings Regierungsviertel Zhongnanhai gibt es keinerlei Illusion mehr darüber, dass sich der wohl entscheidende bilaterale Konflikt der Gegenwart auf absehbare Zeit grundlegend entspannen könnte. Europa hingegen spielt in Chinas Weltbild eine ambivalente Rolle: Solange es als attraktiver Markt für chinesische Exporte dient, wird der „alte Kontinent“ umgarnt. Doch sobald die EU den transatlantischen Schulterschluss wagt, wartet Peking mit ökonomischen Vergeltungsmaßnahmen auf.

Die Zeiten des Booms sind längst vorbei, Ökonomen warnen vor einer Talfahrt

Vor allem fokussieren sich Chinas diplomatische Bemühungen auf den Globalen Süden. Von Afrika über Nahost bis hin nach Zentralasien präsentiert sich das Reich der Mitte als alternative Weltmacht, die die Hegemonie der USA ablösen möchte. Dafür formt China systematisch die Institutionen der liberalen Weltordnung nach den eigenen Wertevorstellungen um. In den letzten Jahren hat kein Land derart viele Führungspositionen innerhalb der Vereinten Nationen besetzen können wie China.

All dies bedeutet auch ein Umdenken für heimische Firmen, die weiter in China ihr Geschäft machen wollen. Der Markt ist politischer geworden, stärker staatlich gelenkt. Privatkonzerne können nur dann florieren, wenn sie sich aktiv den von Peking ausgegebenen Zielen der Fünfjahrespläne fügen. Und bei den Kernindustrien, die Xi Jinping mit flächendeckenden Subventionen zur Staatssache erklärt hat, haben ausländische Betriebe fast immer das Nachsehen. Die deutschen Autobauer bekommen dies derzeit zu spüren, die europäische Solarindustrie wurde bereits vor Jahren durch chinesische Dumpingpreise dezimiert.

„Für eine wachsende Zahl von Unternehmen ist ein Wendepunkt erreicht“, sagt Jens Eskelund, Präsident der europäischen Handelskammer in Peking: „Investoren nehmen ihre China-Geschäfte nun genauer unter die Lupe, da die Herausforderungen die Erträge zu überwiegen beginnen.“