: Im Überschwang der Gefühle
KULTURGESCHICHTE Begehren, überschreiten, disziplinieren – und ganz plötzlich ist die Katharsis da: die Ausstellung „Die Leidenschaften – ein Drama in fünf Akten“ im Hygiene-Museum Dresden
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Ein Vitrinenschrank voller Schuhe, hinten auf hohen Absätzen, vorne spitz oder stumpf, aus Leder oder Samt, mit Spitzen und mit Schleifen besetzt: Dieser Schrank gehört in der Ausstellung „Die Leidenschaften“ im Hygiene-Museum in Dresden zu den Belegen der Begierde. Aber er dokumentiert nicht etwa den Schuhfetischismus einer der Mode verfallenen Frau, sondern, wie eine Texttafel erklärt, die Sammelbegierde des Dresdner Barons Peter Ludwig Heinrich von Block (1764–1818), der die Schuhe des 17. und 18. Jahrhunderts als kulturhistorische Zeugnisse erwarb.
Er war angestellt als Inspektor des Grünen Gewölbes in Dresden und somit ein Vorläufer der heutigen Museumskuratoren. Aber er kaufte auch für die eigene Sammlung, gab mehr aus, als er besaß, und veruntreute schließlich königlichen Besitz. Festungshaft war die Strafe. Dass er doch nur der Geschichte und der Wissenschaft zuliebe so gehandelt habe, verteidigt er sich in einem Brief, der als Faksimile ausliegt.
Jedes Ding ist ein Beleg
Was für eine schöne Geschichte von der Begierde, die größer ist als die Vernunft und sich zum existenzvernichtenden Exzess steigert. Und dazu auch noch eine Geschichte, die ein ungewöhnliches Licht auf die Triebe wirft, die nicht selten am Ursprung des musealen Sammelns selbst stehen. Dabei ist sie nur eine von ungefähr 250 Geschichten, die in der Ausstellung „Leidenschaften“ in Bild und Text angerissen werden. So viele Ausstellungsobjekte verzeichnet der Katalog: kulturelle Artefakte, Arbeiten bildender Künstler, Filmausschnitte, Musikstücke oder zu wissenschaftlichen Demonstrationen erfundene Apparate. Jedes Ding ist ein Beleg, entweder aus der Geschichte zur Erforschung der Leidenschaften oder aus einer leidenschaftlichen Erzählung oder Darstellung, meist von einem kurzen Text erläutert.
Unweit der Schuhe des Barons von Block sieht man ein Beil, das 1960 als Mordwaffe benutzt wurde (Zorn), sieht Willy Brandt auf einem Spiegel-Cover knien und hört Diana Ross „I’m living in shame“ singen (Scham), sieht Richard Burton Deborah Kerr küssen und ein Baby weinen (Begierde), und eine Mordszene aus Hitchcocks „Psycho“ (Angst). Was für eine Dramenhäufung auf engstem Raum. Wohin der Blick fällt, ein Höhepunkt wird gerade erreicht.
Catherine Nichols ist die Kuratorin der Ausstellung, die sie zusammen mit einer Opernregisseurin (Mariame Clément) und einer Bühnenbildnerin (Julia Hansen) entwickelt hat. Sie haben das reiche Material wie ein Drama in fünf Akte gegliedert, mit Exposition, Konflikt, Höhepunkt – dort finden sich die oben beschriebenen Szenen –, Wendung und Auflösung überschrieben. In der Exposition erfährt man von den Versuchen, die Leidenschaften zu lokalisieren: in der Leber, glaubten die Azteken, im Gehirn vermutete Hippokrates, im Herzen, sagte Aristoteles, und all diese Organe baumeln neben einem zerlegbaren Menschenmodell, das in einer Badewanne steht. Ein Diakarussell skizziert alphabetisch die Versuche, die Mimesis systematisch zu erfassen, und Apparate der experimentellen Psychologie sind neben Filmen von Pawlow ausgestellt.
Im zweiten Akt erfährt man von der Überschreitung von Regeln aufgrund der Leidenschaften. Man sieht Modelle von Gefängnissen und Irrenanstalten und die Hilfen zur Ruhigstellung der Patienten. Die Namen von Philosophen tauchen auf, als Buchtitel, und Texttafeln skizzieren kurz ihre Beziehung zu den Leidenschaften.
Nach dem Höhepunkt geht es in der Wendung um die Institutionen der Sublimierung und Disziplinierung, wie Kirche, Erziehung, Arbeit, Freizeit, Sport. Da liegen etwa eine Peitsche aus und Erziehungsratgeber, die das Hygiene-Museum selbst zu DDR-Zeiten herausgab, Kasperlepuppen und Beichtstühle drohen, und eine Skulptur von Bruce Naumann, „Five Pink Heads in the Corner“, umspielt das pädagogische Mittel, Schüler in die Ecke zu stellen. Das alles ruft zurückliegende Zeithorizonte auf, allein die Shopping-Tüten in der Freizeit-Ecke sind aus der Gegenwart. Der letzte Akt gilt dem Mitgefühl, wohl auch als Zielvorstellung für die gereinigten und geläuterten Leidenschaften.
Unterhaltsam und kulturhistorisch kenntnisreich ist die Ausstellung in vielen Details. Aber zugleich, womöglich vom Überschwang der Gefühle hingerissen, auch überinszeniert. Alle Exponate sind in eine Wohnungslandschaft eingefügt, die von Akt zu Akt zunehmend aus den Fugen gerät. Was anfangs noch witzig ist, wie das riesige Insektenmodell unter der Spüle, das Höllenfeuer im Küchenschrank und die Lehre von den Säften, die den Temperamenten entsprachen, im Badezimmer zu entdecken, wird zunehmend zu viel.
Die teils ästhetischen, teils dokumentarischen Sprechweisen der Objekte können sich kaum entfalten und werden durch die Inszenierung und die vielen Erläuterungen überdeckt. Etwas weniger Bühnenbild und Requisite und stattdessen mehr Raum, sich etwa mit den Fotografien von Tierversuchen auseinanderzusetzen, die zur Erforschung des psychischen Haushalts gehörten, oder den holzgeschnitzten menschlichen Figuren mit Tierköpfen, die etwas von den menschlichen Leidenschaften verkörpern sollten, nachzuspüren, das hätte gut getan.
Prozess der Zivilisation
Doch so wirkt es, als ob die Ausstellungsmacherinnen kein Zutrauen in die Leidenschaften des Besuchers gehabt haben, sich auch mal zu versenken, zu überlegen, mal das Nichtverstehen auszuhalten. Vieles hat den Charakter von Teasern und Trailern, ein Anfüttern, und hops! zum nächsten skurrilen Artefakt oder cineastischen Leckerbissen.
Diesem ästhetischen Zuviel entspricht ein Zuwenig an theoretischem Konzept. Denn die Ausstellung enthält sich einer Wertung gegenüber den unterschiedlichen Lehren von den Leidenschaften. Da wird zwar alles ausgebreitet, von den Theorien, die das Beherrschen der Gefühle und Triebe als Voraussetzung für den Prozess der Zivilisation beschreiben, bis zu deren Kritikern, die vor den Folgen der Verdrängung warnen. Doch mehr als ein lexikalisches Aufblättern der verschiedenen Konstrukte, welche Rolle die Leidenschaften für die Gesellschaft spielen, ist das nicht.
Und so erzählt die Ausstellung auch kaum etwas darüber, wie die Leidenschaften heute bewertet werden und welche Funktion die Künste im Umgang mit den Emotionen haben. Man könnte doch fragen, warum sich gerade Filmszenen so gut zu ihrer Darstellung eignen und welche Bedeutung die Kultur für ihre Herausbildung im Subjekt hat. Ein solcher Diskurs bleibt aber in der Fülle des Materials auf der Strecke. Dieses positivistische und illustrative Nebeneinander ändert sich erst im letzten Akt. Der ist ein Votum für das Mitgefühl.
Man kann in Vorträge über die Spiegelneuronen hineinhören, die dem Zuschauenden vermitteln, was der Angeschaute erleidet, und man wird in die Thesen des amerikanischen Ökologen und Philosophen Jeremy Rifkin eingeweiht. Er skizziert eine „empathic civilisation“, ein die Grenzen von Familie, Stamm, Religionszugehörigkeit und Nationalität überschreitendes Mitgefühl, das jeden Menschen mit allen übrigen verbindet. Das ist zwar eine schöne Vision, aber auch ein sehr pädagogischer Abschluss des Ausstellungsdramas, das ethische Kategorien bis dahin außen vor gelassen hat. An so viel Katharsis mag man nicht glauben.
Das begleitende Buch mit essayistischen Beiträgen von Catherine Nichols, Harmut Böhme, Sigrid Weigel und anderen ist ein wildes und fantasieanregendes Bilderbuch. Es reicht in den Texten schon einiges von den Reflexionen und der Vertiefung der Themen nach, die der Ausstellung fehlen. Letztendlich obsiegt aber auch in ihm die Leidenschaft des Sammelns über jede Theorie.
■ „Die Leidenschaften“. Bis 30. Dezember im Hygiene-Museum Dresden. Begleitbuch, hrsg. von Catherine Nichols und Gisela Staupe, Wallstein-Verlag 24,90 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen