Gamingsucht bei Jugendlichen: Lasst die Kinder drinnen spielen!

Glaubt man WHO-Kriterien, war unsere Kolumnistin mit 13 gamingsüchtig. Kein Wunder, wenn jungen Menschen immer mehr öffentliche Räume genommen werden.

Hände mit Acrylnägeln und einem Controller

Wie lang und oft man zockt, hängt auch davon ab, welche Alternativen es dazu gibt Foto: Oliver Berg/dpa

Das Beste am Skiurlaub waren die Nächte. Ich hatte nämlich ein Zimmer für mich, und abends kam eine ­Freundin zu mir geschlichen, die auch „Harvest Moon DS“ gezockt hat. Bis vier Uhr morgens lagen wir im Bett, die Köpfe dicht über unseren Nintendo DS, und ratschten semi-aggressiv mit dem Stift über das Touchpad, um die Kühe zu streicheln.

Ich war 13 und spielsüchtig. „Harvest Moon“ war mein neues Grundbedürfnis, Schlaf vergleichsweise egal. Wenn ich mir vorgenommen hatte, nicht zu zocken, konnte ich nie widerstehen. Wenn mein Vater mich abends fragte, wie viel ich heute gespielt hatte, log ich. Wenn er drohte, mir den Nintendo wegzunehmen, weinte ich. Während ich auf meinen Skiern den Berg runterpeste, konnte ich nur an meine Level-8-Erdbeeren denken.

Damit erfüllte ich fünf der neun Kriterien, die laut der American Psychiatric Association einen „Internet Gaming Disorder“, also eine Videospielsucht, ausmachen. Für eine Studie wurden rund 83.000 Schü­le­r:in­nen aus dreizehn Ländern zu Videospielen befragt. Insgesamt zockten ganze 68 Prozent, und jede fünfte Person mehr als vier Stunden am Stück. Als problematisch klassifizierten die Forschenden, wenn die Schü­le­r:in­nen zumindest fünf der neun Sucht-Kriterien der WHO erfüllten. Auf 12 Prozent der Befragten traf das zu – wie bei meinem 13-jährigen Selbst.

Der Politik empfehlen die Forscher:innen, den Zugang zu Online-Aktivitäten für junge Menschen zu regulieren. Kontrolle, diesen Weg sind meine Eltern damals auch gegangen. Sie hatten Angst, ich verpasse das „richtige“ Leben, wenn ich so viel zocke. Aber für mich war Gaming etwas „Richtiges“. Meine Farm, meine Sims, meine Pferde – zu allem hatte ich eine emotionale Bindung.

Analoge, lebenswerte Räume finanzieren!

Klar, Videospiele waren auch eine Form von Weltflucht: in emotional stressigen Zeiten oder im Urlaub, wenn meine Freun­d:in­nen und Routine weit weg waren. So wie Versuchsratten aufhören, Heroin-Überdosen zu trinken, wenn man sie unter artgerechten Bedingungen hält, lösen sich Jugendliche leichter vom Bildschirm, wenn es um sie herum andere Dinge gibt, die sie begeistern.

Nicht erst seit der Coronapandemie müssen junge Menschen ihre Freiräume jedoch im eigenen Zuhause suchen. Der öffentliche Raum wird privatisiert, Jugendclubs schließen und Straßen werden breiter. Wer nicht um die einzige Tischtennisplatte im Block kämpfen will, zockt halt zu Hause. Damit Jugendliche keine Spielsucht entwickeln, müsste die Regierung analoge, lebenswerte Räume für sie finanzieren.

Eltern haben kaum Einfluss auf den öffentlichen Raum. Sie können dafür innerhalb des Haushalts Freiräume schaffen. In meiner Familie haben wir irgendwann mit klaren Regeln Kompromisse gefunden, zum Beispiel: zuerst Hausaufgaben, dann Gaming. Wichtig waren aber auch Ausnahmen. Ich wollte, dass meine Bedürfnisse bezogen auf die Spiele gesehen werden. Nur noch ein Versuch für das Level! Nur noch diese eine Kuh streicheln! Dann war ich zufrieden.

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Hat in Leipzig Journalismus studiert und ist seit 2022 fest bei der taz, aktuell im Online-Ressort als CvD und Nachrichtenchefin. Schreibt am liebsten über Wissenschaft, Technik und Gesellschaft, unter anderem in ihrer Kolumne Zockerzecke.

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