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: Verführerische Apokalypse

Die Hamas verherrlicht den Tod und zwar nicht nur den ihrer Gegner, sondern auch ihrer eigenen Kämpfer. Damit steht sie konträr zur biblischen Botschaft

Die Benennung von Kriegen ist ein interessantes Thema. Die Urheber von Kriegen geben ihnen Namen, die das Bild, das Gefühl oder Ethos widerspiegeln, das sie mit dem Krieg verbinden. In den meisten Fällen bleiben diese Namen, die eher dramatisch und pompös sind, allerdings nicht hängen, und der Krieg bekommt einen viel nüchterneren, prosaischeren Namen.

Oft unterscheiden sich die Bezeichnungen bei den Kriegsparteien. So ist der Krieg von 1948 in Israel/Palästina auf israelischer Seite als Unabhängigkeitskrieg in die Geschichte eingegangen, während er auf palästinensischer Seite als Nakba (Katastrophe) bekannt ist. Der Krieg, der am 7. Oktober begann, bekam auf israelischer Seite den Titel „Eiserne Schwerter“, aber niemand nennt ihn so. Die Hamas nannte ihn „Tufan al-Aksa“: Sintflut von al-Aksa. Es ist ein Name, der einerseits mit der palästinensischen Nationalbewegung in Verbindung gebracht wird, zum anderen mit der Hamas als einer fanatisch religiöse Bewegung, die die Al-Aksa-Moschee zu einem Symbol im Kampf für palästinensische Souveränität gemacht hat. Historisch gesehen ist das völliger Unsinn.

Neben der religiösen Ideologie steckt noch eine andere Bedeutung in diesem Namen: Apokalypse. Die Sintflut wird in der Bibel mit dem Ende der Welt gleichgesetzt, genauer gesagt mit dem göttlichen Entschluss, das Leben auf der Erde zu vernichten. Nicht zum ersten Mal lässt Gott es zu, dass eine mörderische Mentalität die Oberhand gewinnt. Die Gründe dafür sind vage, sie implizieren indes, dass die Welt nur nach einer solchen Auslöschung die Chance hat, in einem unschuldigen Modus neu erschaffen zu werden. Natürlich scheitert auch dieses Projekt völlig.

Die Hamas-Männer drangen in die Kibbuzim ein, ermordeten, vergewaltigten und zerstörten, und an vielen Orten blieben sie einfach dort und warteten auf die Armee. Warum warteten sie auf eine Schlacht, die sie nicht gewinnen konnten? Wahrscheinlich – das zeigen Befragungen der Gefangenen – um vor dem eigenen Tod möglichst viel Tod und Zerstörung zu verursachen. Das Ziel war, mit dieser blutigen Orgie der totalen Zerstörung, Schock und Chaos in der israelischen Gesellschaft zu verbreiten.

Im Koran ist das göttliche Verhalten etwas verständlicher: Die Sintflut ist eine Reaktion auf die Weigerung der Menschen, an einen einzigen Gott zu glauben. Die Flut wird als Strafe für die Bösen beschrieben, die den Monotheismus ablehnen. Nimmt man die Auslegung vom Hamas-Chef Jahia Sinwar ernst, sind die in Palästina lebenden Juden und Jüdinnen böse, weil sie palästinensisches Land besetzen und aus dieser Perspektive ketzerisch sind.

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Hagai Dagan

lehrt Jüdisches Denken am Sapir College in Sderot und ist Autor vieler Sachbücher und Romane. In den vergangenen zwei Jahren schrieb er regelmäßig eine Kolumne für die wochentaz.

Unter israelischen Kommentatoren gab es Debatten darüber, ob die Hamas eine pragmatische Organisation mit rationalen Zielen ist, die nur vorgibt, extremistisch zu sein, oder ob sie eine extremistische religiöse Organisation ist, die manchmal pragmatisch wirkt, um Feinde zu täuschen. Äußerungen einiger Hamas-Führer, die kein Interesse an der Infrastruktur Gazas zeigen, erweckten den Eindruck, dass die Organisation nicht pragmatisch ist. Die Hamas hat den Gazastreifen in einen befestigten Bunker verwandelt. Unter der Erde erstreckt sich über Hunderte Kilometer ein Tunnellabyrinth. Normales Leben erscheint wie die Tarnung für ein apokalyptisches Unternehmen. Einige Ziele der Hamas sind vielleicht nicht völlig unrealistisch, aber sie sind in endzeitlichen Farben gemalt. In das Chaos der Hamas mischen sich Hass, Rache, Sadismus und Mord, aber auch eine selbstzerstörerische Freude. Die Flut soll nicht nur Feinde des Islam, sondern auch die Krieger selbst auslöschen. Es ist eine Kultur der Verherrlichung des Todes. In der Geschichte, die der Koran erzählt, bleiben Noah und seine Familie am Leben. In der Version der Hamas sterben auch die „Gerechten“.

Auch auf israelischer Seite gibt es Stimmen, die eine mildere Version der apokalyptischen Geschichte übernehmen. Einige sitzen in der Regierung. Im Umfeld von Finanzminister Bezalel Smotrich wird der Krieg durchaus begrüßt. Krieg verfeinert, reinigt und erbaut uns. Das ist eindeutig Faschismus, eingepackt in religiöse Rhetorik. Auf beiden Seiten gibt es Menschen, die der Blutgeruch erregt und die ihre Gesellschaften in den Untergang reißen. Die Frage ist, wie viele vernünftige Menschen es noch gibt, die gegen diese apokalyptischen Entwicklung halten können.

Die Hamas hat ein strenges Indoktrinationssystem geschaffen, um diese Denkweise in der palästinensischen Gesellschaft zu verankern. Wie erfolgreich sie dabei ist, lässt sich schwer sagen. Klar ist, dass trotz des immensen Leids, das die Palästinenser ertragen müssen, die Hamas-Ideologie noch immer Anhänger findet und keinen offenen Widerstand hervorruft. Die Mehrheit der Palästinenser macht Israel, allenfalls arabische Länder und die westliche Welt für ihr Leid verantwortlich, nicht aber ihre eigenen Führer.

Auf beiden Seiten gibt es die, die der Blutgeruch erregt und die ihre Gesellschaften in den Untergang reißen

Anders in Israel, wo wöchentlich Hunderttausende gegen die Regierung und die religiösen Fanatiker protestieren. Gleichzeitig scheint sich jedoch auch ein großer Teil der israelischen Gesellschaft mit der Vorstellung eines ewigen, blutigen Krieges abzufinden.

Die Apokalypse ist verführerisch, weil sie einen starken Kontrast zur frustrierenden Mittelmäßigkeit des Lebens darstellt. Neil Young singt: „It’s better to burn out than to fade away.“ Aber das Leben, so mittelmäßig es auch ist, ist immerhin ein Leben. Die Apokalypse bringt nur den Tod. Am Ende der biblischen Sintflutgeschichte scheint es Gott zu bereuen und er verspricht, die Erde nie wieder zu zerstören: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Es ist eine Lebensbotschaft, eine Botschaft der Hoffnung. Bedauerlich, dass Sinwar und andere Fanatiker diese Geschichte nie bis zum Ende gelesen haben.