Erinnerungen eines Guerilleros

In seinem bewegenden Erzählband „Das Schweigen meines Vaters“ rekonstruiert der Schriftsteller und Ex-Widerstandskämpfer Mauricio Rosencof das Leben seiner Familie in Polen und Uruguay

Die Straße hinter dem Regierungsgebäude in Montevideo, das durch Militär gesichert wird, kurz nach dem Staatsstreich 1973 Foto: ullstein bild

Von Eva-Christina Meier

Verschwinde, geh, du weißt doch nichts,“ verscheucht Leon weinend den jüngeren Bruder Moishe. Tatsächlich hatte Mauricio die Tanten und Onkel in Bełżyce nie kennengelernt, aber auch die Pogrome in der alten Heimat nicht erlebt. Seit Langem waren aus Polen keine Briefe mehr von den Verwandten eingetroffen. Nun aber hatte Familie Rosencof Nachricht erhalten. Kaum einer von ihnen hatte die Shoah überlebt. „Es ist aus, aus und vorbei.“

Isaac, ihr Vater, war als Schneider 1931 nach Südamerika ausgewandert. Einige Zeit später konnte er seine Frau Rosa mit dem Erstgeborenen aus Polen nachholen. Und so kommt Mauricio Rosencof 1933 in Uruguay zur Welt.

In seinem jüngsten Erzählband „Das Schweigen meines Vaters“ nähert sich der Autor Mauricio Rosencof im Rückblick ein weiteres Mal dem Leben des Vaters. Die Erinnerungen an ihn verbinden sich mit dem Gedenken an die ermordeten Verwandten und Momenten der eigenen Biografie.

Als ein führendes Mitglied des „Movimiento de Liberación Nacio­nal – Tupamaros“, der uruguayischen Stadtguerilla, die ab Mitte der 1960er Jahre einen bewaffneten Kampf gegen Oligarchie und Imperialismus führte, wurde Mauricio Rosencof 1972 festgenommen. Nach dem Militärputsch 1973 in Uruguay wurden er sowie acht weitere Tupamaros zu sogenannten Geiseln des Staates. Als solche überlebten sie zwölf Jahre die Kerker der Militärdiktatur (1973–1985) in Isolationshaft. In einer Dreiergruppe ab 1973 an wechselnden Standorten festgehalten, kommunizierten Rosencof, „El Ñato“ und José „Pepe“ Mujica, der 2010 Präsident des Landes werden sollte, während dieser Zeit nur durch Klopfzeichen aus ihren Verliesen miteinander.

In dem Roman „Der Bataraz“ (1995) und gemeinsam mit „El Ñato“ Fernández Huidobro in „Kerkerjahre“ (2019) hat Rosencof diese extreme Erfahrung literarisch festgehalten.

„Das Schweigen meines Vaters“ rekonstruiert in kurzen Miniaturen das frühere Leben und den Neuanfang der Familie in Uruguay, erst in Florida, später in Montevideo. Kurze Szenen handeln vom Zusammenleben in der Nachbarschaft oder beschreiben die Werkstatt des Vaters im Viertel Palermo. Gerne hört er beim Schneidern im Radio „Die polnisch-israelitische Stunde“ mit Liedern von Jevel Katz. Zu Hause wird Unzer Fraint, die jiddisch-kommunistische Zeitung, gelesen.

Aber über das Schicksal seiner Geschwister, über die Toten spricht der Vater zeitlebens nicht mit dem Sohn. Diese Leerstellen füllt Rosencof in seiner Erzählung mit den Auszügen jener Berichte, die Zofia Rozenkopf, Isaacs Nichte, 1994 der Shoa Foundation als Holocaust-Überlebende hinterließ.

Damit setzt der uruguayische Autor seine vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Schicksal seiner polnisch-jüdischen Familie fort, welche er in dem Roman „Die Briefe, die nicht ankamen“ (2004) begonnen hat. Einfühlsam erinnert der inzwischen 91-jährige Schriftsteller an beschwerliche Zugreisen, die Isaac Rosencof in den Jahren der Diktatur quer durch das Land unternimmt, um für fünfzehn Minuten durch eine Glasscheibe getrennt den inhaftierten Sohn zu treffen, und den schwer Misshandelten dabei kaum zu erkennen vermag. Große Taschen mit Äpfeln, Orangen oder Kleidung werden für ihn jedes Mal sorgfältig gepackt, obwohl nichts davon jemals den Gefangenen erreichen wird.

Am Zielbahnhof auf einer dieser Reisen nähert sich dem Vater ein unbekannter Junge und nimmt ihm die schwere Markttasche ab. „Ich helfe Ihnen, Don Isá.“

Mauricio Rosencof: „Das Schweigen meines Vaters“. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Verlag Assoziation A, Hamburg/Berlin 2024, 160 Seiten, 18 Euro

In solch beiläufig erzählten Momentaufnahmen setzt Mauricio Rosencof Zeichen der Menschlichkeit dem Terror entgegen. Ohne wortreiche Erklärungen fügen sich seine zahlreichen Erinnerungssplitter zu einer einzigen Erzählung und einem historischen Ganzen zusammen. Viele der gegenüberliegenden Buchseiten bleiben in dem umsichtig gestalteten Band unbedruckt und schaffen symbolisch Raum für das, was nur zwischen den Zeilen zu stehen scheint.

Eine im Buch und auf dem Cover abgebildete historische Aufnahme zeigt die Schneiderwerkstatt von Zofias Vater in Lublin, 1930. Darauf sind Familienangehörige und Freunde der Rosencofs bei der Arbeit zu sehen – unter ihnen im Vordergrund rechts auch der junge Isaac. Es muss kurz vor seinem Aufbruch nach Südamerika aufgenommen worden sein.

„Dieses Foto hing von jeher in der Werkstatt meines Vaters. Als ich zum ersten Mal eine Wand sah, hing es schon da. Heute, fast ein Jahrhundert später, weiß ich, wovon ich damals nichts wusste.“