Motivation zum Widerstand

In der Ukraine erinnert man sich nicht nur an die deutsche Aggression. Ein Besuch an einem Ort, der wie kaum ein anderer für die Besetzung durch die Sowjetunion steht

Das Lonsky-Gefängnis im ukrainischen Lwiw: Beklemmung und Repression Fotos: Marco Zschieck

Aus Lwiw Marco Zschieck

Nur gut einen Meter breit und lang ist die unbeheizte, fensterlose Zelle. Die Wände sind mit unebenem Beton verputzt. Wer hier eingesperrt wurde, sollte sich nicht mal anlehnen können. Eine zweite Zelle ist rundherum gepolstert und schallisoliert. Beide Zellen befinden sich im Museum im Lonsky-Gefängnis im ukrainischen Lwiw. Der Ort verkörpert wie kaum ein anderer die Vielschichtigkeit der Geschichte der Region. Ein wichtiges Datum dabei ist der 17. September 1939. 85 Jahre ist dies nun her.

Geht es um den Beginn des Zweiten Weltkriegs, herrschen in der deutschen kollektiven Erinnerung Bilder vor, wie die Wehrmacht Schlagbäume an der polnischen Grenze durchbricht oder wie das Schlachtschiff „Schleswig-Holstein“ in Danzig auf die Westerplatte schießt. Doch in Osteuropa erinnert man sich auch an eine andere Geschichte. Nämlich an die Besetzung durch die Sowjetunion ab dem 17. September und an den Terror, der dann folgte.

Das Lonsky-Gefängnis wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Kaserne der österreichischen Gendarmerie erbaut, als Lwiw noch Lemberg genannt wurde und zur österreichisch-ungarischen Donaumonarchie gehörte. Im Polen der Zeit zwischen den Weltkriegen wurde das Gebäude zum Gefängnis umgebaut. Das nutzte dann die sowjetische Geheimpolizei weiter, dann die Nazis und dann wieder die sowjetische Geheimpolizei. In der unabhängigen Ukraine wurde das Gebäude schließlich zum Museum.

Vieles in dem Gebäude mit der eidottergelben Fassade erzeugt Beklemmungen: die langen Korridore mit den Zellentüren, die Gitter, die winzigen Toiletten, die die Gefangenen zehn Minuten am Tag nutzen durften. Doch dieser Ort war nicht gedacht, um Menschen nur einzusperren. Sie sollten gebrochen werden.

Olesya Isaiuk kennt die Ausstellung in – und auswendig. Die promovierte Historikerin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin. Die 37-Jährige arbeitet seit zwölf Jahren im Museum und forscht unter anderem zu Konzentrationslagern. Jährlich werden nach ihren Angaben zwischen 16.000 und 20.000 Besucher gezählt. „Die Menge hat sich auch seit Beginn des großangelegten Krieges nicht verändert“, sagt sie. Allerdings kämen nun viele Binnengeflüchtete aus dem Osten der Ukraine zu Besuch. „Sie wollen die Hintergründe von Russlands Invasion und der damit einhergehenden Gräueltaten verstehen.“

Dass Ostgalizien – also in etwa die drei heutigen west­ukrainischen Regionen Lwiw, Ternopil und Iwano-Frankiwsk – heute zur Ukraine gehört, hängt mit einem Dokument zusammen, dass vor 85 Jahren in Moskau von Nazi-Außenminister Joachim von Ribbentrop und seinem sowjetischen Amtskollegen Wjatscheslaw Molotow unterzeichnet wurde: dem geheimen Zusatzprotokoll zum Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Der Pakt der Diktatoren gab Hitler freie Hand für seinen Krieg gegen Polen und teilte den Osten Europas zwischen dem faschistischen und dem kommunistischen Imperium auf. Mit ein paar Ausnahmen bildet die Linie aus dem Zusatzprotokoll auch heute die polnische Ostgrenze.

Die Sowjetpropaganda behauptete, die Rote Armee habe die polnischen Ostgebiete ab dem 17. September 1939 besetzt, um ihre „slawischen Brudervölker“ zu schützen. Tatsächlich hielten sie mit der Wehrmacht gemeinsam fünf Tage später eine Parade in Brest ab. In den Monaten, die folgten, zogen die Sowjets in ihren neu eroberten Gebieten im Schnelldurchlauf das Terrorprogramm durch, dass sie in ihrem Herrschaftsbereich schon 20 Jahre lang umsetzten.

„Alle, die Verantwortung in einer Gesellschaft übernehmen konnten, standen auf der Fahndungsliste des NKWD“, erklärt Isaiuk. Dazu zählten Lehrer, Geistliche, Kulturschaffende oder Politiker, ganz gleich ob Polen, Ukrainer oder Juden. „Oft wurden die Gesuchten mit ihren Familien verhaftet.“ Im Gefängnisflur hängen Dutzende Namenslisten. „Mit einem roten Häkchen markierte Namen sind Gefangene, die hingerichtet wurden.“ Wer nicht gleich erschossen wurde, wurde in Haft gefoltert und verhört, um an weitere Namen zu kommen. „Die Geheimpolizei war Ermittler, Ankläger und Richter in einem.“

Wer noch am Leben war, wurde nach Sibirien deportiert. Insgesamt rund 1,1 Millionen Menschen aus den vormals polnischen Gebieten. Aber es gibt auch höhere Schätzungen. Bis Mitte 1941 Nazideutschland den Pakt mit Stalin brach, gab es vier Verhaftungswellen. Die letzte kurz vor dem Angriff der Wehrmacht. Als sich die deutschen Truppen der Stadt näherten, hatte der NKWD keine Zeit mehr für einen Abtransport der Gefangenen. Alle 1.681 Menschen wurden Ende Juni 1941 erschossen. Das ganze war kein Einzelfall. In der Region gab es 16 Massenerschießungen.

„Für viele hier ist die Erfahrung der sowjetischen Okkupation eine Motivation zum Widerstand“, sagt Isaiuk. Sie kenne etliche Beispiele aus dem Freundeskreis. „Manche sprechen vom zehnten Jahr des Kriegs, der vor mehr als 100 Jahren begonnen hat.“ Ähnlich wie aus dem Holodomor – dem von Stalin angeordneten Aushungern der ukrainischen Gebiete unter sowjetischer Herrschaft Anfang der 1930er Jahre – ergebe sich aus der massenhaften Gewalt nach dem sowjetischen Einmarsch 1939 für die heutige Generation die Lehre, dass sie sich in einer existenziellen Auseinandersetzung befinde. „Wir wissen, wir haben keine andere Wahl, als zu kämpfen.“

Fährt man heute durch das historische Galizien, bemerkt man nicht auf Anhieb, ob man in Polen oder in der Ukraine ist. Die wellige Landschaft steigt langsam Richtung Süden zu den Karpaten an, wird von kleinen Flüssen durchzogen, die Gehöfte auf dem Land liegen oft ein bisschen Abseits der Straßen. Gewissheit bekommt man zum Beispiel, wenn man irgendwo ein Schild sieht. Je nachdem, ob die Buchstaben lateinisch oder kyrillisch sind.

Olesya Isaiuk, Historikerin im Museum des Lonsky-Gefängnisses

Oder wenn der Luftalarm ertönt.

Mitten in der Landschaft steht der Grenzübergang Korczowa-Krakowez. Auf der polnischen Seite beginnt eine Autobahn, die bis nach Calais am Ärmelkanal führt. Auf der ukrainischen Seite hat man sich zur Fußball-Europameisterschaft 2012 immerhin frischen Asphalt auf der Landstraße bis in die 90 Kilometer entfernte Universitätsstadt Lwiw geleistet – der historischen Hauptstadt Galiziens, die auf Deutsch Lemberg heißt und auf Polnisch und Russisch Lwow. Die EU-Außengrenze schneidet sich durch die Landschaft. Es gibt einen Zaun, Stacheldraht und einen vegetationsfreien Geländestreifen, damit man Fußspuren gut erkennen kann. Auf der einen Seite ist das Nato-Land Polen, auf der anderen Seite muss sich die Ukraine des russischen Angriffskrieges seit mehr als zweieinhalb Jahren erwehren.

„Eine paradoxes Ergebnis der stalinschen Politik ist, dass dadurch 1939 erstmals fast alle Ukrainer im selben Staat gelebt haben – auch wenn es nicht ihr eigener war“, sagt der Historiker Jan Claas Behrends. Er hat die Professur Diktatur und Demokratie – Deutschland und Osteuropa von 1914 bis zur Gegenwart an der Europauniversität Via­drina in Frankfurt (Oder) inne. Bekannt ist er auch durch den Podcast „Ostausschuss der Salonkolumnisten“.

Die Brutalität der sowjetischen Unterdrückung habe damals die ukrainische Bevölkerung in die Arme des radikalen Teils der Nationalbewegung getrieben. Und diese wiederum saß zwischen allen Stühlen. Sowohl Polen als auch die Sowjetunion waren für sie Besatzer. „Der Annäherungsversuch an Deutschland hat nicht funktioniert“, sagt Behrends. Die Nazis waren nicht an einem ukrainischen Staat interessiert. Für sie zählte die slawische Bevölkerung in Osteuropa allenfalls als Arbeitssklaven.

Olesya Isaiuk arbeitet seit 12 Jahren im Museum

Der Partisanenkampf gegen die Sowjets dauerte bis Ende der 1940er-Jahre. „Ähnlich wie der Erste Weltkrieg in Osteuropa nicht 1918 zu Ende war, war auch der Zweite nicht 1945 vorbei“, so Behrends. Aus dem langen Widerstand speist sich auch bis heute die Popularität in Teilen der Bevölkerung. Das gelte beispielsweise auch für Stepan Bandera, der zeitweise mit den Nazis kollaboriert hat. „Bandera war für seine Epoche ein typischer nationalistischer Politiker.“ Dass er 1957 in München durch den KGB ermordet wurde, habe ihn posthum noch bekannter gemacht. „Die heutige Ukraine mit ihrem ethnisch und religiös inklusiven Nationalbewusstsein hätte ihm sicher nicht gefallen.“

„Im heutigen Polen wird dem 17. September genau so gedacht wie dem 1. September“, erklärt Behrends. Das könne man gar nicht voneinander trennen. Ein gewaltiges Gebiet, um das die Rote Armee nach der Machtübernahme der Bolschewiki bis Anfang der 1920er-Jahre erfolglos gekämpft hatte, gab es nun fast frei Haus. Die Implikationen gehen sogar weit über Osteuropa hinaus: „Die Kooperation mit der Sowjetunion habe Hitlerdeutschland den Rücken freigehalten, um in Westeuropa erfolgreich angreifen zu können“, sagt Historiker Behrends.

Anders als die Ostukraine oder zeitweise auch die Region Kyjiw ist der Westen des Landes seit 2022 allerdings kein Frontgebiet. Aber es gibt immer wieder Luftangriffe. Anfang September etwa schlug eine russische Rakete in ein Wohnhaus in der Innenstadt ein und tötete eine Mutter und ihre drei Töchter. Der Ort ist nur etwas mehr als einen Kilometer vom Museum entfernt.