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: Blinde Flecken

Friedensbewegte Linke verbinden ihre Kritik am Ukrainekrieg mit Antiimperialismus und Staatskritik. Das spielt vor allem Putin in die Hände

Spätestens mit den Wahlerfolgen von AfD und BSW bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen ist Frieden eine Chiffre für einen neuen Nationalchauvinismus geworden. Dieser denunziert Waffen- und Finanzhilfen an die Ukraine wahlweise als Diebstahl am deutschen Volk oder dem Steuerzahler. Wie aber ist zu erklären, dass auch weite Teile der Linken Waffenlieferungen ablehnen, mit denen die völkerrechtswidrig angegriffene Ukraine sich zu verteidigen versucht?

Eine Rolle spielen sicher die in der Friedensbewegung grassierenden Narrative zur „Vorgeschichte“ des Kriegs, etwa dass der Kreml sich einer immer aggressiveren Einkreisung durch die Nato ausgeliefert sah. Es ist allerdings seltsam, dass über jenen Teil der Vorgeschichte des Krieges, der gerade PazifistInnen für die Ukraine einnehmen müsste, beharrlich geschwiegen wird. So hat die Ukraine ihre gesamten Atomwaffen und weitere Waffensysteme abgegeben, größtenteils an Russland. Indessen hat Russland seine strategische Situation gegenüber der Ukraine immer nur verbessert, etwa durch die teilweise auch gewaltsame Übernahme eines immer größeren Teils der Schwarzmeerflotte, die Besetzung der Krim und den Bau der Nord-Stream-Pipelines. Viel grundlegender als die Friedensbewegung versuchen linksradikale An­ti­mi­li­ta­ris­t:in­nen den Krieg in der Ukraine in ihr Weltbild von Klassenkampf, Antiimperialismus und Staatskritik zu integrieren. Dabei wird nicht nur der Krieg, sondern darüber hinaus die bestehende Gesellschaft als gewaltförmig analysiert, so etwa die Jour Fixe Initia­tive Berlin: „Das aktuelle Kriegsregime bedeutet das Ende der falschen Erzählung einer gewaltlosen bürgerlichen Gesellschaft. Die Militarisierung des Lebens seit Beginn des Ukrainekrieges bringt die Gewaltförmigkeit der kapitalistischen Gesellschaften ins Offene.“

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Holger Schatz

arbeitet für eine internationale Gewerkschaft, die unter anderem ukrainische Seeleute organisiert und mit ukrainischen und anderen postsowjetischen Transportarbeitsgewerkschaften kooperiert.

In Zeiten des Krieges ließe sich eine staatstragende Formierung durchsetzen und es würden soziale Errungenschaften geschliffen. Aussagen aus dem Baukasten linker Staatskritik, die immer einen Punkt treffen. Doch welche Erkenntnis bieten sie angesichts einer Formierung, die sich derzeit eher durch rechts- und linkspopulistische Friedensbewegte vollzieht? Wenn aber bereits die indirekten Folgen der „Kriegstreiberei“ all das Schlechte dieser Gesellschaft forciere, dann erfordere das massenhafte Sterben erst recht eine Äquidistanz zu allen Kriegsparteien, vornehmlich zum „Hauptfeind im eigenen Land“, so das Marx21-Netzwerk.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass öfter an den Ersten und nicht den Zweiten Weltkrieg erinnert wird. Um jedenfalls gar nicht erst den Unterschied zwischen einem Angriffs- und einem Verteidigungskrieg diskutieren zu müssen, werden umfangreiche „materialistische“ Analysen der Hintergründe des Krieges sowie der Klassengesellschaften der beiden Kriegsparteien geliefert. Ausführlich zeichnet etwa Freerk Huisken in „Frieden. Eine Kritik“ den Ukrainekrieg als einen Krieg zweier kapitalistischer Weltmächte nach. Huiskens Ausführungen zufolge erscheint Russlands Invasion als zwangsläufige Folge dieser Konkurrenz, einen qualitativen Unterschied oder Bruch scheint es nicht zu geben, denn „Krieg und Frieden sind eben nichts anderes als alternative Formen der Austragung der Staatenkonkurrenz“.

Derartige Versuche, den Krieg in der Ukraine in grundlegende Theorien des globalen Kapitalismus einzupassen, lassen die handelnden Subjekte verschwinden. Allenfalls tauchen kriegsmüde Menschen als Beleg dafür auf, dass nur der Westen und seine Marionettenregierung in Kiew den Krieg führen wollen. Auf die Idee, dass viele Ukrai­ne­r:in­nen längst am Westen und der unzureichenden militärischen Unterstützung verzweifeln, kommen solcherlei Analysen nicht. Zugleich werden jene Stimmen aus sozialen Bewegungen und Gewerkschaften ignoriert, die trotz ihrer Kritik an der ukrainischen Regierung massive Waffenlieferungen vom Westen fordern. Die Gewerkschaften etwa hoffen nichts sehnlicher als auf ein Ende des Krieges und auf eine starke Unterstützung durch westliche Gewerkschaften – gerade auch nach dem Krieg. Dann, wenn es in der Tat darum gehen wird, die Ansprüche des erwähnten Westkapitals auf reibungslose Geschäfte im neuen Markt Ukraine zurückzudrängen und soziale Rechte in der Ukraine auszubauen.

Linksradikale An­ti­mi­li­ta­ris­t:in­nen versuchen, den Krieg in der Ukraine in ihr Weltbild von Klassenkampf zu integrieren

Waffen zu fordern, resultiert hier zum einen aus der nüchternen Einschätzung, dass nur eine relevante militärische Antwort auf das aggressive Moskauer Regime überhaupt halbwegs akzeptable Verhandlungen beziehungsweise Verhandlungsergebnisse mit sich bringen kann. Zum anderen weil klar ist, dass die Bedingungen für eine weitere gesellschaftliche Emanzipation in der Ukrai­ne bei einem Sieg Russlands unmöglich würde, insbesondere wenn dann wahrscheinlich auf Jahrzehnte „belarussische“ Bedingungen herrschen.

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Jan Keetman

ist freier Journalist.

Dies kann nur leugnen, wer wie Wagenknecht den Angriff auf die Ukraine ja ohnehin als Reaktion Putins auf den Westen deutet und nicht als reaktionäre Abstrafung emanzipatorischer Veränderungen im postsowjetischen Raum. Aus den hier skizzierten blinden Flecken der Kritik an Waffenlieferungen ergibt sich keineswegs, dass damit alle Zweifel vom Tisch zu wischen wären angesichts des massenhaften Sterbens von ZivilistInnen und SoldatInnen. Allein, die Analyse der teilweise recht schrägen und auf Falschinformation basierenden Argumentation vieler Kriegs­geg­ne­r:in­nen legen den Schluss nahe, dass manche Fragen um jeden Preis vermieden werden sollen, weil sie nicht ins linke Weltbild passen: Was, wenn ein Regime wirklich Krieg führen will? Was, wenn es das tut, weil es auf wenig oder unzureichende Gegenwehr zu treffen glaubt? Was, wenn an der Abschreckungsdoktrin etwas Wahres dran ist, auch wenn sich dies im falschen Ganzen (globaler Kapitalismus) abspielt? Ein falsches Ganzes, das allerdings leider Realität ist und zumindest mittelfristig nicht verschwinden wird.