Ein Netz für die Zukunft

RAUBKUNST Das Forschungsprojekt „Russische Museen im Zweiten Weltkrieg“ soll eine Anatomie des deutschen Kunstraubs liefern

VON BARBARA KERNECK

„Es geht darum, den Verlusten eine Geschichte zu geben.“ So erklärt Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Ziele des gerade startenden Forschungsprojekts „Russische Museen im Zweiten Weltkrieg“. Gegenstand sind die unermesslichen Verluste russischer Museen durch Zerstörung, Plünderungen und planmäßigen Abtransport. Das vorerst auf anderthalb Jahre und 800.000 Euro angelegte Projekt wird zu 80 Prozent von der Volkswagenstiftung finanziert, den Rest tragen die Kulturstiftung des Bundes und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz.

Die sechs Orte, an denen ein großes, interdisziplinäres Expertenteam exemplarisch arbeiten soll, wurden auch um des Erfolgserlebnisses willen ausgesucht. Denn dort hat man schon beträchtliche Vorarbeiten geleistet. Es handelt sich um die mittelalterlichen Museumsstädte Pskow und Nowgorod und um die Umgebung von vier Palästen bei St. Petersburg.

Einer davon, der Jekaterinenpalast in Zarskoje Selo, verlor damals 30.000 von 42.000 Exponaten. Nach dem Krieg wurden über 500.000 Kulturexponate in die ehemalige Sowjetunion zurückgegeben, teils von der US-Besatzungsmacht, die in Deutschland systematisch nach Nazi-Raubkunst suchte. Doch noch immer meldet die russische Seite 70.000 Objekte als vermisst.

In spektakulären Ausstellungen haben seit 1995 bis heute große russische Museen die Welt mit vorher versteckt gehaltenen, in Deutschland geraubten Kunstgegenständen konfrontiert. Als erstes Museum verblüffte die Petersburger Eremitage mit den im Dunkel der Magazine glühend gebliebenen Farben von van Gogh-, Manet- oder Degas-Gemälden aus deutschen Privatsammlungen. Im selben Jahr outete sich das Moskauer Puschkin-Museum als Gralshüter des von Heinrich Schliemann gehobenen trojanischen Goldes.

Nun wird im Gegenzug eine Art Anatomie des deutschen Kunstraubs angestrebt. Hauptziel sei es, erläutert Parzinger, in beispielhaften Fällen deutsches räuberischen Vorgehen in Russland zu rekonstruieren. Die russische Seite empfindet dies als einen späten Schritt in Richtung Gerechtigkeit, gewichtet aber anders: „Wir hoffen doch, dass uns ein Teil der verlorenen Museumsgegenstände zurückgegeben wird – früher oder später“, betont Swetlana Nekrasowa, wissenschaftliche Mitarbeiterin von „Russische Museen im Zweiten Weltkrieg“.

Mit dem in zweieinhalb Jahren geplanten Abschlussbericht erwartet uns ein Historienkrimi über epochale Vorgänge, welche noch immer im Dunklen liegen. Die Aktionen teils miteinander konkurrierender NS-Kunstraubbrigaden vollzogen sich buchstäblich unter einem Rauchvorhang. Sie begannen kurz nach dem Einmarsch, als russische Museumsmitarbeiter Objekte, die sie nicht mehr hatten evakuieren können, noch eilig vergruben, und dauerten noch an, als nebenan Brände die Kunstschätze verzehrten. In dem Chaos purzelten schon mal Ikonen aus Lastwagen und boten sich viele Möglichkeiten für private Langfinger. Zur wahren Herausforderung wird die Suche für Raubkunst-DetektivInnen, wenn auch russische Bestandslisten oder ganze Archive den Wirren zum Opfer fielen und sich die Spuren der sie einst betreuenden MitarbeiterInnen verloren.

Die in Russland konfiszierten Kunstschätze kamen in Deutschland in Privatsammlungen von Nazigrößen oder in speziell dafür geräumte Bunker, viele verkaufte man gegen Devisen ins Ausland. Wichtige Funde in deutschen Museen gelten inzwischen als unwahrscheinlich. Doch für Museumsleute aus beiden Ländern ist schon die Zusammenarbeit in diesem Projekt ein lohnendes Ziel. Sie gibt ihnen erstmals die Möglichkeit, mit Historikern und Kunstwissenschaftlern in Ruhe ein Netz für die Zukunft zu weben.

Die meisten in der jüngeren Vergangenheit in Deutschland aufgetauchten Gegenstände, zum Beispiel 1997 in Bremen ein Mosaik aus dem berühmten Bernsteinzimmer im Jekaterinenpalast, stammen aus Privatbesitz. Deshalb setzt das Projekt – auch dies ist neu daran – auf private Archive und Aufzeichnungen und auf eine Art Graswurzel-Museumswissenschaft in der Bevölkerung.

Für die Nachfahren deutscher „Souvenirjäger“ könnte es erhellend wirken, wenn die Presse künftig über neue Details der untersuchten Vorgänge berichtet. Wie der wissenschaftliche Leiter des Projekts „Russische Museen im Zweiten Weltkrieg“, Professor Wolfgang Eichwede, sagt: „So mancher kommt dann vielleicht auf die Idee, noch mal in seinem Keller oder auf seinem Dachboden nachzusehen.“