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Archiv-Artikel

„Ohne Verfassung wird die EU nicht sozialer“

Die französischen Gegner der EU-Verfassung idealisieren den Nationalstaat, sagt der Rechtswissenschaftler Ulrich Mückenberger. Und erst ihr Nein macht die EU tatsächlich zum ökonomischen Projekt

taz: Herr Mückenberger, ein Nein zur EU-Verfassung in Frankreich ist so gut wie sicher – wer trägt diese Ablehnung?

Ulrich Mückenberger: Das französische „Non“ wird von einer eigenartigen Koalition getragen, von einer bürgerlichen Rechten und einem Teil der radikalen Linken. Die Konservativen sehen das Prinzip des starken Nationalstaats gefährdet, die Linken halten Europa für eine Verirrung, die auf kaum getarnten Wege dem Neoliberalismus zum Durchbruch verhilft. Dem liegt eine völlige Fehleinschätzung des europäischen Projekts zugrunde. Zum Teil strotzt die Kritik an der EU-Verfassung vor Fehlern, etwa, dass es keinerlei soziale Komponenten in dem Text gebe. Das ist einfach falsch.

Gewichtet die Verfassung soziale Rechte und Marktinteressen gleich?

Es gibt in jeder modernen Verfassung ein Spannungsverhältnis zwischen ökonomischen und soziokulturellen Rechten, auch im deutschen Grundgesetz. Die Europäische Verfassung als Dokument der Globalisierung abzutun und ihr dieses Spannungsverhältnis völlig abzusprechen, halte ich für ausgesprochen leichtsinnig.

Warum sollen die Franzosen ihren Sozialstaat nicht verteidigen?

Das sollen sie! Aber sie tun das doch nicht, indem sie die Verfassung ablehnen, die keine sozialen Errungenschaften beseitigt. In den Texten steht meist, dass jeweils die für die Arbeitnehmer günstigere nationale Regelung gilt. Für den Sozialstaat muss man auf nationaler, aber eben auch auf europäischer Ebene kämpfen. Dafür braucht man mehr, nicht weniger Integration.

Nach Umfragen dominieren in Frankreichs Ja-Fraktion leitende Angestellte. Arbeiter oder Arbeitslose nehmen offenbar an, dass ihnen die Verfassung mehr schadet als nutzt …

Dass die sozialen Bedingungen unter Druck geraten sind und der Prozess der sozialen Ausgrenzung in Europa voranschreitet, kritisiere ich auch. Ich frage mich nur: wie verhalten sich das „Oui“ oder „Non“ zu diesen Problemen? Das Scheitern der Verfassung führt zu einer Renationalisierung. Leider idealisieren die Verfassungsgegner den Kampf gegen den Wirtschaftsliberalismus auf nationaler Ebene. Gewinnen sie ihn etwa dort?

Braucht man für diesen Kampf die Verfassung?

Nein, nicht unbedingt. Aber mit der Verfassung sind die Bedingungen für eine solidarische Politik andere. Eine Verfassung als politisches Projekt hat einen Symbolwert, der auf sozialen Zusammenhalt drängt.

Warum nehmen Sie es den Nein-Sagern nicht ab, gegen den Vertrag, aber für ein einiges Europa zu sein?

Weil die EU nach einem Scheitern der Verfassung auf lange Zeit lahm gelegt wäre. Was dann bevorsteht, ist eine Eftaisierung der EU – sie wird zu einer riesigen Freihandelszone, die sich ein politisches und soziales Projekt gar nicht mehr vornimmt. Es muss jetzt ein politischer Zusammenhalt gegründet werden, und an dessen Spannungen und Dynamiken muss gearbeitet werden. Die Verfassungsgegner machen den Fehler, das zu befördern, was sie ablehnen: eine von der Ökonomie dominierte EU. Abgesehen davon stehen beim „Non“ eher Personen im Zentrum, etwa Jacques Chirac.

Die Verfassungskritiker lehnen nicht Personen ab, sondern deren politische Ziele. Wieso ist das nicht legitim?

Legitim ist es, rational ist es nicht. Die Protagonisten bleiben schließlich auf nationalstaatlicher Ebene erhalten, mitsamt ihrer Politik. Nur weil die Verfassung scheitert, gibt es doch keine sozialere Wirtschaftspolitik in den Nationalstaaten.

Ist die EU als europäisches Projekt in Frankreich nie angekommen?

Sagen wir es anders herum: Die Europäische Union war immer stark von Frankreich geprägt, von Personen wie Jean Monnet oder Robert Schuman. In der erweiterten Union nimmt die französische Dominanz nun allerdings ab, und es fällt vielen Franzosen schwer, das zu akzeptieren. Sie leiden unter dem Zauberlehrlings-Effekt. Sie haben die EU mit geschaffen und werden sie jetzt nicht mehr los.

Die Verfassungsgegner sorgen sich auch über eine neue EU-Erweiterung – zu der Brüssel ohne den Vertrag wohl nicht in der Lage wäre. Kippt am Sonntag der türkische EU-Beitritt?

Das wäre mit eines der schlimmsten Ergebnisse. Natürlich würde nach einem Scheitern der Verfassung auch die Beitrittsperspektive der Türkei geschwächt. Die EU hätte zu viel mit sich selbst zu tun. Dabei brauchen wir eine Brücke zum Islam; die Integration der Türkei ist schon deswegen wichtig. Wir müssen die Menschenrechtssituation oder die wirtschaftliche Lage in der Türkei diskutieren. Den Vorbehalt gegen den Islam aber, der auch in Frankreich aufschimmert, lasse ich nicht gelten. INTERVIEW:HEIKE HOLDINGHAUSEN