Jenseits der Öko-Nische

Soziale Teilhabe und Wachstum sind die Themen der nächsten Jahre. Die Zukunft der Grünen hängt davon ab, ob sie auf diese gesellschaftlichen Fragen Antworten finden

Die Grünen bewegen sich auf der Domäne der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik nach wie vor wie Gastarbeiter

Es hätte nicht erst der Kapitalismuskritik des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering bedurft, um den Eindruck zu gewinnen, dass die rot-grüne Koalition eine erstaunliche Bandbreite an Positionen aufweist und die innere Opposition ihr Geschäft bisweilen effektiver betreibt als die äußere. Dass solch rot-grüne Dialektik sich nur noch in einer Neuwahl zur Synthese bringen lässt, sagt bereits viel über das künftige Widerspruchspotenzial aus. Es wird sich nicht einfach auf einen Nenner bringen lassen.

Man kann in der schwankenden rot-grünen Bewegungsweise der letzten sieben Jahre unschwer die Schwierigkeit erkennen, angesichts sich krisenhaft wandelnder Verhältnisse die eigene Politik in einen Rahmen zu stellen, der über den Augenblick hinaus noch Anhaltspunkte für die Vorstellung von einer besseren Gesellschaft bietet. Unter diesem Unvermögen leidet die SPD weit mehr, als die Grünen es tun. Sie haben sich lange Zeit in der trügerischen Gewissheit gewogen, diese relative Stabilität sei eine reale Stärke. Dieser Sicherheit wurde mit dem Wahlergebnis von Nordrhein-Westfalen der Boden entzogen.

Das macht den Blick frei auf eine Partei, die erkennbar Mühe hat, ein „Weiter so“ substanziell zu begründen. Das Getöse um die dräuende schwarze Republik vermag die Antwort nicht zu geben, die nicht allein wegen der bisherigen Regierungsbilanz, sondern auch aufgrund der biografischen Koordinaten der Grünen verlangt wird.

So wie die Grünen in Opposition zu und an der Seite der SPD über zwei Jahrzehnte groß geworden sind, so lässt sich das Ende des letzen rot-grünen Bündnisses auf Landesebene als Schließung eines politischen Zyklus deuten, der im September seine Vollendung findet. Die Gründungsanliegen sind in die politische Agenda der Republik eingearbeitet, die kulturellen Botschaften haben die ganze Gesellschaft durchsetzt.

Beide Entwicklungen verknüpfen sich in augenfälliger Weise mit der Generationenfrage. Obgleich zwei Drittel der Mitglieder nach 1990 eingetreten sind, prägt nach wie vor die Gründerkohorte das Profil der Partei. Diese ist zwar im Gegensatz zur SPD-Führungsriege noch immer juvenil genug, um auf Augenhöhe mit der Opposition zu stehen, doch erzählen die Gesichter eher eine vollendete denn eine offene Geschichte. Vor allem aber lassen sich aus ihnen auch nach zwanzig Jahren noch immer die groben Züge der Moralisten filtern, denen im Zweifelsfall ökologische Anliegen mehr wiegen als allgemeiner Wille und soziale Belange.

Dass Bärbel Höhn zu einer Verteidigerin des Feldhamsters stilisiert werden konnte und führende Sozialdemokraten nun auf Abstand zu einem „Mopsfledermauswahlkampf“ der Grünen gehen, ist nicht allein ein „kommunikatives“ Problem. Die sozial-ökologische Politik, die Gegenstand der „grundlegenden Richtungsentscheidung“ am Wahlsonntag sein soll, hat eine Glaubwürdigkeitslücke, die von den Grünen in ihrer ganzen Regierungszeit nicht geschlossen wurde.

Der ökologische ist zweifellos ihr stärkster normativer Impuls. Er sichert ihnen allerdings nicht nur den Zuspruch der Kernwähler, sondern setzt sie auch dem Verdacht aus, im Zweifelsfall Einzel- vor Allgemeininteressen zu stellen. Und als solches Partikularinteresse erscheint die Umweltpolitik in einer Gesellschaft, die das Allgemeininteresse zunehmend mit dem Wort „Arbeit“ übersetzt. Unter den Bedingungen der anhaltenden Krise ist die Formel der Grünen, dass Umwelt Arbeit schaffe, zwar eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung, um wirtschaftspolitisch zu überzeugen. Denn die Frage ist nicht mehr allein, ob Umwelt und Arbeit keinen Widerspruch bilden, sondern ob das Input in den Umweltsektor nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit, sondern auch unter dem der Wirtschaftlichkeit und der Arbeitsmarkteffekte zu optimalen Resultaten führt.

Die Konfrontation eines sozial-ökologischen Projektes mit einem von der Opposition betriebenen neoliberalen Projekt der sozialen Kälte geht mit ziemlicher Grobschlächtigkeit über die zahlreichen politischen Konvergenzen hinweg, die sich dahinter verbergen. Aus dem Durchmogeln in der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Finanzpolitik der letzten Jahre lassen sich nur schwer klare Trennlinien filtern, die nicht zugleich von der eigenen früheren Praxis dementiert werden können. Nun rächt sich, dass diese Praxis nicht mit Leitbildern einer rot-grünen Koalition verbunden, sondern bestenfalls mit den Wieselwörtern der Nachhaltigkeit und der sozialen Gerechtigkeit geliftet wurde. Es ist nicht allein das materielle Weniger, was den Bürger gegen die Regierung aufbringt. Die Wähler verstehen nicht, wie sich die rot-grüne Regierung die Gesellschaft eigentlich vorstellt. Sie sehen sich zugleich in mehr Eigenverantwortung entlassen und einer größeren Kontrolle unterworfen, sie sollen mehr vorsorgen und können sich ihrer Habe nicht sicher sein.

Im Regierungshandeln der Grünen verschwimmen die ordnungspolitischen Grundmuster, aus denen die Gewichtung widerstreitender Normen und Handlungsoptionen ersichtlich wäre. Die durchaus fragwürdige Übertragung des Nachhaltigkeitsprinzips auf die Finanzpolitik wie das sanglose Verklingen dieses Generationenanliegens ist dafür ebenso ein Beispiel wie die Aushebelung des Äquivalenzprinzips bei der Kürzung des Arbeitslosengeldes.

Die Formel „Umwelt schafft Arbeit“ überzeugt wirtschaftspolitisch längst nicht mehr

Arbeit, Demografie und Wachstum sind die neuen Signifikanten gesellschaftlichen Zusammenhalts und Fortschritts. Obgleich die Wachstumskritik an ihrer Wiege stand, wissen die Grünen mit den Verwerfungen einer Gesellschaft des Weniger, die sich in allen drei Begriffen manifestiert, erstaunlich wenig anzufangen. Auch sie retten sich in die volksparteiliche Rhetorik der Zuversicht, die noch immer einem jeden eine bessere Zukunft verheißt.

Dabei bewegen sich die Grünen auf der sozialdemokratischen Domäne der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik nach wie vor wie Gastarbeiter, die entweder in der Assimilation den Fortschritt erkennen oder eine eigene Identität behaupten, die sie in die Nische verweist. Aus diesem Dilemma entkommen sie nicht durch schwarz-grüne Gedankenspiele, sondern nur, wenn sie die sozialdemokratische Tradition, die eben zum guten Teil die eigene ist, akzeptieren und die eigene als deren Fortentwicklung betrachten.

Weder Programm noch Milieu trennen beide Parteien derart, dass die SPD nicht noch immer daran dächte, die Grünen irgendwann zu schlucken, und dass diese nicht aus deren inneren Widersprüchen wachsen wollten. Diese Widersprüche werden womöglich durch den Eintritt Oskar Lafontaines in ein linkes Parteibündnis auf äußerst komplexe Weise verschärft. Das ist die Auseinandersetzung hinter der Auseinandersetzung, die im September ansteht. Letztere mag bereits entschieden sein. Erstere bleibt auch danach noch spannend. DIETER RULFF