Gemeinde dankt Gott für Prozessende

Nach dem Ende des Verfahrens gegen Olaf Latzel feierte seine St.-Martini-Gemeinde am Sonntag einen schuldbeladenen Gottesdienst

Von Eiken Bruhn

„Oh, das geht noch voller“, sagt am Sonntag ein junger Mann nach dem Gottesdienst in der denkmalgeschützten St.-Martini-Kirche in Bremen. Die ist gut besucht: Alle Bänke sind besetzt, und das nicht nur von alten Menschen. Zwei Frauen bedecken mit einem fließenden Tuch ihre Haare, eine weitere stillt ihr Baby, um halb elf rennen einige Kinder zum Kindergottesdienst in den Gemeinderäumen. Dennoch sehe ein volles Haus hier anders aus, erklärt der junge Mann: „Wenn unser Hauptpastor Olaf Latzel predigt, müssen wir anbauen, da bleibt kein Platz frei.“

Aber Latzel, dessen Gerichtsverfahren wegen Volksverhetzung vergangene Woche eingestellt wurde, steht heute nicht auf der Kanzel, sondern Eckhard Piegsa, ein Bremer Kinderarzt, der sich auf ADHS spezialisiert hat. Zehn Minuten nach Beginn des Gottesdienstes erklärt er den Besucher:innen, er und sie „sündigen gegen Gott und gegen unseren Nächsten, in Gedanken, Worten und Werken“ und das auch durch „unsere eigene bewusste Böswilligkeit“. In diesem Duktus geht es weiter. Von froher Botschaft ist nichts zu hören oder zu spüren.

Wortgetreue Verkündung der Bibel

Eckhard Piegsa predigt über Paulus‘ Römer-Brief, hat im siebten und achten Kapitel die Worte „Gesetz“ und „Geist“ gezählt und kommt zu dem Schluss, Paulus – der Ex-Pharisäer, der „kein Weichei war“ – habe „aufgeräumt mit der Mär vom guten Menschen“. Die Predigt ist zäh, bleibt fast ohne Bezug zum Alltag, aber schließlich handelt es sich bei der Martini-Gemeinde um eine, die Wert auf eine „wortgetreue Verkündigung“ lege, wie es auf der Homepage heißt. „Unsere Andachten und Predigten haben die Bibel als Grundlage.“ Und nicht etwa das Leben der Menschen. An einer Stelle weicht Piegsa davon ab und versucht, seine Gedanken anschaulich zu machen: „Die Vorstellungen von richtiger Erziehung und gelingendem Leben sind oft verschieden“, sagt er, „in der Mafia werden sie anders sein als… äh … in anderen Strukturen. Aber das Bemühen bleibt.“

Olaf Latzel redet schmissiger, deshalb stand er in Bremen vor Gericht: 2019 hatte er in einem Eheseminar „gelebte Homosexualität“ als „todeswürdig“ bezeichnet, von einer „teuflischen Homo-Lobby“ und „diesen Verbrechern vom Christopher-Street-Day“ gesprochen. Am Mittwoch entschuldigte er sich im Berufungsverfahren für seine Äußerungen. Gegen eine Zahlung von 5.000 Euro an einen queeren Verein stellte das Landgericht Bremen das Verfahren ein.

Auf zum Marsch für das Leben

„Danke für das Ende des Prozesses“, sagt zum Schluss des Gottesdienstes eine Frau, vom Prediger als „Antje“ vorgestellt. Sie übernimmt die Gebetsteile, predigen dürfen Frauen in St.-Martini nicht. Den Psalm 146 hatten zuvor Frauen und Männer in der Kirche abwechselnd gelesen; Gendermenschen wie du und ich. Weil es ein Disziplinarverfahren der Bremer Kirchenleitung gegen Latzel gibt, bittet Antje: „Leite uns und Olli in den weiteren Schritten und segne alle Verantwortlichen mit deinem Geist der Weisheit und Besonnenheit.“

In ihre Fürbitte bezieht sie Israel mit ein: „Lass sie auch dich ihren Messias erkennen und Frieden finden.“ Damit muss sie die jüdischen Be­woh­ne­r:in­nen Israels meinen, denn die teilen bekanntermaßen nicht den Glauben von Christen, der Messias sei mit dem Zimmermannssohn aus Nazareth bereits erschienen.

Anschließend ruft Eckhard Piegsa dazu auf, am 21. September beim „Marsch für das Leben“ in Berlin gegen das Recht Schwangerer auf Selbstbestimmung zu demonstrieren. Martini sei wie immer mit einem Bus dabei, Anmeldungen bitte bis zum 5. September.