Weg vom China-Klischee

In Hamburgs Museum für Kunst und Gewerbe bekommt China einen eigenen Raum. Darin sind die Ausstellungsstücke nach Techniken, Farben und Formen geordnet, um die frühe Arbeitsteilung zu zeigen, die durch europäische Aufträge angeregt wurde

Immer wieder dieselben Symbole: drei Drachen und die Attribute der Acht Unsterblichen auf einer Schnitzlackdose aus der Qianlong-Ära (1736–1795) Foto: MK&G/Jörg Arend

Von Petra Schellen

Sie ist menschhoch, rosa-grün-bunt und tonnenschwer: die riesige Vase am Eingang der neu sortierten China-Dauerausstellung in Hamburgs Museum für Kunst und Gewerbe (MKG), mit glücksbringenden Drachen, Fledermäusen, Blumen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert entstanden solche Vasen als Auftragswerke für europäische Herrschaftshäuser: Exportware also.

Und gerade weil sie so klischeehaft, in europäischen Augen „typisch chinesisch“ ist, wollte Kuratorin Wibke Schrape sie nicht wieder aufstellen, als sie die Ausstellung neu konzipierte. Aber als die Vase eine Zeitlang nicht zu sehen war, gab es so viele Nachfragen von BesucherInnen und KollegInnen, dass Schrape sie wieder aufstellte. „Schließlich ist es eine Sammlung für die BürgerInnen“, sagt sie.

Außerdem sei es vielleicht hilfreich, die BesucherInnen beim Vertrauten abzuholen, ihnen so den Einstieg in die neue Präsentation von „Inspiration China“ zu erleichtern. Bis dato hatte das MKG nämlich Japan, Korea, China zur „Ostasien“-Abteilung“ zusammengefasst, was die Differenzierung nicht beförderte.

Nun bekommt jedes Land eigene Räume; nach Japan folgte jetzt China, wo von rund 2.600 Stücken 220 gezeigt werden; so viele wie zuvor. Diese sind allerdings nicht mehr chronologisch, sondern modular geordnet, nach Materialien, Formen, Techniken. Denn das Motto „Inspiration“ knüpft an die Gründungsidee des 1877 eröffneten Museums an, das anfangs auch Kunstgewerbeschulen umfasste. Kunsthandwerk aus allen Kontinenten wurde gesammelt und als Vorbild und Muster für KunsthandwerkerInnen präsentiert, zur kreativen Belebung der einheimischen Produktion.

Derart will auch Wibke Schrape die heutigen BesucherInnen inspirieren und webt ins Vertraute en passant jene kulturelle Wechselwirkung ein, um die es letztlich geht. Gleich hinter besagter „Lieblingsvase“ steht eine Vitrine mit – gleichfalls klischeehaft-vertrautem – chinesischem Blauweiß-Porzellan. Der zweite Blick offenbart den interkulturellen Austausch, denn auch dies war Exportware für ausländische Märkte: Ein Blauweiß-Krug der Ming-Dynastie (1368–1644) ähnelt einem Bierhumpen und wurde in der Tat für einen bayerischen Adligen gefertigt. Für den persischen Markt wiederum waren die kugelbauchigen Kannen mit schlankem Hals gedacht. Daneben prangt eine Kanne Meißner Porzellans in Blauweiß; Inspiration funktionierte auch in umgekehrter Richtung.

Begonnen hatte die europäische Nachfrage nach chinesischem Porzellan während des Kolonialismus – obwohl es in China „bloß“ einzelne koloniale Stützpunkte gab – 1602 mit Gründung der Niederländischen Ostindien-Kompanie, die Porzellan im großen Stil importierte. Um die Sammelwut europäischer Adliger zu befriedigen, entwickelten die chinesischen Manufakturen eine sehr effektive modulare Arbeitsmethode: Standardisierte Elemente wurden für den jeweiligen Auftraggeber variiert, neu zusammengesetzt, in verschiedene Größen transponiert. Die drei in der Grundform ähnlichen, im Detail aber verschiedenen Bronzegefäße der Shang-Dynastie (1600–1100 v. Chr.) im MKG verdeutlichen das Prinzip.

Ein weiterer Effekt der starken Nachfrage nach Exportware: ein arbeitsteiliger Produktionsprozess, bei dem jeder für einen Schritt zuständig war und ihn derart zur Perfektion trieb, dass Massenware aus perfekten Einzelstücken entstand – ein für aufs „Original“ bedachte EuropäerInnen schwer begreifbares Phänomen. Interessant auch, dass China besagte arbeitsteilige Massenfertigung 1.600 vor Chr. erfand und Europa im 19. Jahrhundert – gut 3.000 Jahre später.

Immer wieder reflektiert die Hamburger Ausstellung die subjektive, europäisch-wertende Sicht auf die Objekte. Im Modul „monochron“ steht eine graue, eckige Vase aus dem 12. Jahrhundert. EuropäerInnen verglichen sie oft mit dem Bauhaus-Stil und empfänden sie als „modern“, sagt Schrape. Und das ist als Kompliment gemeint.

Wie all diese Werke in den europäischen Kunsthandel kamen? „Das ist kompliziert und oft schwer festzustellen“, sagt Silke Reuther, Provenienzforscherin am MKG. Sie betreut den 2021 im Nachgang der Ausstellung „Raubkunst“ eingerichteten „Provenienz-Parcours“, der mit roten Pfeilen anzeigt, zu welchen Exponaten geforscht wurde.

Natürlich bestehe bei chinesischen Exponaten die Möglichkeit unrechtmäßiger Herkunft, vor allem infolge des unter deutscher Beteiligung 1901 niedergeschlagenen „Boxeraufstands“ gegen die Dominanz ausländischer Mächte. Denn daraufhin wurde massiv Kunst geraubt und nach Europa gebracht – ein bislang wenig erforschtes Kapitel, dem sich das bundesweite Projekt „Spuren des Boxerkrieges in deutschen Museumssammlungen“ von November 2021 bis Juni 2024 widmete.

Auch das MKG nahm teil; das Fazit: „Wir haben in der Ausstellung kein Stück, das wir direkt dem Boxerkrieg zuordnen können“, sagt Schrape. Auch gebe es bislang bundesweit keine Resitutionsforderung aus China. „In China werden allerdings Listen der Objekte geführt, die etwa aus den einstigen Kaiserlichen Sammlungen verschwunden sind“, sagt Schrape. Auch in chinesischen Medien werde das Thema präsenter und dringe allmählich ins Bewusstsein.

Allerdings seien die Objektbiographien vielschichtig, sagt Provenienzforscherin Reuther. „Gerade aus den Kaiserlichen Werkstätten wurde vieles etwa an Diplomaten verschenkt.“ Zudem habe das Kaiserhaus Anfang des 20. Jahrhundert aus Finanznot viele Objekte verkauft, deren Wege man nicht rekonstruieren könne. „Auch ist unklar, wie weit der Handel mit Exportporzellan als belastet anzusehen ist und ob die chinesischen Werkstätten damals angemessen bezahlt wurden“, sagt Reuther.

Immer wieder reflektiert die Ausstellung die subjektive, europäisch-wertende Sicht auf die Objekte

Aber selbst die „nur“ 80 Jahre zurückliegende NS-Zeit lässt sich nicht immer rekonstruieren. Bei einem bronzenen Pferdekopfschmuck, entstanden um 1.000 v. Chr., „wissen wir zum Beispiel außer von einem Zwischenhändler nichts Genaues über die NS-Zeit“, sagt Reuther. Der gleich alte Deichselkopf darunter wiederum wurde nicht in der NS-Zeit geraubt, „aber wie er nach Europa kam, wissen wir nicht“.

Ganz und gar unübersichtlich wird es bei ausgegrabenen Objekten wie der 4.000 Jahre alten, einst als Hirsebehälter genutzten Vase und den Keramik-Hofdamen aus einem Grab des 8. Jahrhunderts. „Da wissen wir nicht: Wurden sie vor 1.000 Jahren von Grabräubern ausgegraben oder vor 100 Jahren beim Eisenbahnbau?“, sagt Reuther.

„Heute kauft unser Museum nur noch Objekte an, bei denen Grabungsdokumente und Ausfuhrgenehmigung vorliegen“, sagt Schrape. Und verweist, um den „Inspirations-Kreis zu schließen, zum Schluss auf ein Beispiel innerchinesischer, sogar modularer Inspiration: Sie zeigt auf das riesige Hängerollen-Gemälde „Sommerberge – Weite Ferne (1722) von Huang Ding, Sinnbild idealer Landschaft und Regierung.

Gegenüber hängt das Video „Rising Mist“ (2014) des in Shanghai lebenden Künstlers Yang Yongliang. Der traditionelle Bildaufbau – Berge über Wasser, dazwischen Nebel – findet sich auch im Video. Dann wird er sukzessive dekonstruiert: Die „Bäume“ erweisen sich als Strommasten, die Berge sind von Baustellen übersät. Der Nebel verdichtet sich zu Smog. Er überlagert das Bild und alles, wofür es steht.

„Inspiration China“: bis 3. 1. 27, Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg, Steintorplatz