„Schwäche, die wir uns selbst nicht zugestehen, müssen wir verfolgen“

Bei der steigenden Gewalt gegen Obdachlose müssten soziale Krisen und autoritäre Strukturen zusammengedacht werden, sagt die Soziologin Saskia Gränitz

Philipp, 32 Jahre, hat seine Wohnung verloren, weil er depressiv war

Interview Volkan Ağar

taz: Frau Gränitz, Sie forschen zum Thema Obdachlosigkeit. Zuletzt haben immer wieder Gewalttaten gegen obdachlose Menschen für Empörung gesorgt. Vor ein paar Wochen erst haben zwei junge Männer in Aschaffenburg eine halbe Stunde lang auf eine obdachlose Person eingeprügelt und ihre Tat sogar gefilmt. Warum greifen Menschen andere schutzlose Menschen in Not an?

Saskia Gränitz: Man könnte diese Gewalt psychoanalytisch fassen als Ergebnis von Projektionen: Wir sehen an jemandem eine Schwäche, die wir bei uns selbst nicht zulassen können. Weil wir uns selbst nicht zugestehen, im Leben auch einmal zu scheitern, müssen wir diese Schwäche verfolgen. Gerade in autoritären Konstellationen, ob in Kleingruppen oder größeren gesellschaftlichen Kontexten, passiert das.

taz: Laut Angaben des Bundesinnenministeriums (BMI) ist die Gewaltkriminalität gegen obdachlose und wohnungslose Menschen von 2018 bis 2023 um 36,8 Prozent gestiegen. Allein im letzten Jahr wurden 885 Gewalttaten registriert. Wie erklären Sie sich das?

Gränitz: Das sind ja nur die offiziellen Zahlen. Es gibt einen Graubereich, weil sich Betroffene aus Angst oft nicht bei der Polizei melden. Die Gewalt steigt in sozialen Krisen: In den Neunziger- und Nullerjahren, also im Zuge der Vereinigung, gab es bundesweit rassistische Gewalttaten, aber speziell in Ostdeutschland bis in die Nullerjahre auch viele Morde an obdachlosen und alkoholkranken Menschen. Die Stimmung war aufgeheizt durch die Hartz-Reformen und sozialchauvinistische Mediendebatten über Menschen, die vermeintlich nicht arbeiten wollen. Wenn es heute einen Anstieg bei Gewalttaten gegen obdachlose Menschen gibt, dann auch im Kontext einer gesellschaftlichen Vielfachkrise, die viele ökonomisch spüren und die zu einer Verrohung führt.

taz: Warum sind es oft junge Männer, die Obdachlose angreifen?

Gränitz: Es gibt eine männliche Selbstwahrnehmung, die den eigenen Körper als Panzer versteht. Man stellt Härte her und kultiviert diese, indem man bestimmte abgewehrte Selbstanteile projiziert und etwa Frauen misogyn abwertet. Alles, was einem dann zu nahe kommt und diesen Körperpanzer zu zerbrechen droht, Schwäche zum Beispiel, wird als Bedrohung wahrgenommen und gewaltsam bekämpft.

taz: Sie forschen zu rechter Gewalt im Zuge der ostdeutschen Transformation und zu Ressentiments gegen Obdachlose im gesamtdeutschen Kontext. Wie hängen diese Themen zusammen?

Was?

Die Fotografin Debora Ruppert hat das Projekt „Stimmen der Straße“ entwickelt. Obdach- und wohnungslose Menschen bekamen Einwegkameras und zeigten damit ihren Alltag aus ihrer Perspektive.

Wo?

Die Ausstellung wird am Mittwoch, dem 11. September, dem Tag der Wohnungslosen, im Freundeskreis Willy-Brandt-Haus in Berlin-Kreuzberg eröffnet. Danach ist sie bis zum 10. November zu sehen.

Gränitz: Damals ist eine Generation unter besonderen biografischen Bedingungen in die Wende gestolpert. Sie hatte gerade den Kindergarten oder die Schule abgeschlossen, als sie in eine Konstellation kam, die ihr niemand erklären konnte. Die Elterngeneration hatte keine Ahnung von dem, was kommt. Alle waren überfordert. Die Kinder sind in vielen Punkten ohne Elternfiguren aufgewachsen, obwohl ihre Eltern physisch präsent waren. Aber sie waren sehr mit sich selbst beschäftigt. Es entstanden leere Räume, die zu rechten Räumen wurden, wo Jugendliche Rückhalt in autoritären Gruppenstrukturen suchten. Damit wollten sie Ordnung ins Chaos bringen.

taz: Welchen Einfluss hat das Elternhaus auf das gewalttätige Verhalten junger Menschen?

Gränitz: Es hilft, psychologische und soziale Faktoren zusammenzudenken. Wenn Menschen gewalttätig werden, dann nicht nur wegen der Erziehung, sondern immer in einer gesellschaftlichen Situation, in der diese wirkmächtig wird. Die Abwesenheit von Eltern meint im Ostdeutschland der 1990er Jahre nicht unbedingt, dass diese wirklich weg waren. Es geht auch um prekäre Lebensverhältnisse. Eltern können abwesend sein, weil sie depressiv sind. Wenn die Mutter für mehrere Wochen in eine Klinik verschwindet, ohne dass jemand den Kindern erklärt, warum. Die Kinder haben dann keine Sprache für das, was passiert. Wenn man keine Sprache für die eigenen Affekte hat, verfällt man ins Agieren, also man handelt, ohne zu denken. Gewalt kann nicht allein auf gewalttätige Eltern zurückgeführt werden. Während ein Kind mit einem autoritären Vater, der es schlägt, noch eine Art Beziehung hat, entwickeln Kinder ohne anwesende Eltern oft gar kein Gefühl für Beziehungen. Sie können keine Beziehungen aufbauen und nicht gut trennen zwischen sich selbst und anderen Personen. Beides kann Nährboden für Autoritarismus sein.

Jana, 29 Jahre, Drogenkonsum und Schicksalsschläge führten bei ihr zu einer Psychose Fotos: Debora Ruppert

taz: Lässt sich das problematische Verhältnis zu Autoritäten auf die politische Ebene übertragen?

Gränitz: Die alten „Volksparteien“ verlieren an Zustimmung, eine autoritäre Partei gewinnt diese dazu. Nicht nur im Osten. Es gibt Menschen, die können schwache Autoritäten nicht ab. Sie bringen diese alten Autoritäten deshalb zu Fall und suchen sich neue Autoritäten, die wiederum irgendwann auch als zu schwach erscheinen und ersetzt werden müssen. Das ist eine Grundstruktur des autoritären Habitus.

taz: Die Zahlen des BMI zeigen auch, dass die Gewalt gegen Frauen, die obdach- oder wohnungslos sind, in den vergangenen 5 Jahren um 46,2 Prozent gestiegen ist. Stärker als bei Männern mit 34,8 Prozent. Sind Frauen besonders betroffen von der Gewalt?

Foto: Hajue Staudt

arbeitet als Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in Frankfurt am Main. Im März 2024 erschien von ihr „Bilder der Wohnungsnot. Ideologische Phantasmen in der Geschichte der Fürsorge“ im Psychosozial-Verlag.

Gränitz: Frauen sind in der Forschung zur Obdachlosigkeit lange nicht vorgekommen. Man hat gedacht, es gibt gar keine weiblichen Obdachlosen. Auch Hilfesysteme waren nur auf Männer ausgerichtet, denn Frauen organisieren ihre Obdachlosigkeit oft eher so, dass sie nicht sichtbar sind, auch für den Staat und die Behörden. Sie wollen nicht auffallen. Damit sind sie besonders verwundbar.

taz: Hilft ein historischer Blick, um die heutige Gewalt gegen obdachlose Menschen zu verstehen?

Love (Pseudonym), 24 Jahre, wurde vom Mitbewohner gestalkt

Gränitz: Im Nationalsozialismus gab es eine Opfergruppe, die lange nicht als solche anerkannt wurde. Diese Menschen wurden mit schwarzem Winkel markiert und als „Asoziale“ verfolgt. Das waren obdachlose oder alkoholkranke Menschen, aus antiziganistischen Motiven verfolgte Personen, aber auch Sexarbeiterinnen. Hier wurden viele verschiedene Feindbilder zusammengewürfelt. Den Nazis selbst war nicht ganz klar, wo die Grenzen dieser Gruppe verlaufen. Wenn wir die Gewalt der Gegenwart verstehen wollen, müssen wir uns fragen, inwiefern Ideologien der NS-Zeit heute fortwirken. Vorstellungen wie „Wer nicht arbeitet, bekommt auch keine Hilfe!“ Oder Ideen der Eugenik, die besagen, dass manches Leben lebenswerter sei als anderes. Da sind wir an manchen Punkten gar nicht weit weg heute. Viele Affekte, die zu Gewalttaten führen, haben eine lange Geschichte. Sie liegen in Familien begraben, in denen nie über den Nationalsozialismus und die eigene Täterschaft gesprochen wurde.

taz: Wie könnte ein besserer Umgang mit Obdachlosigkeit aussehen?

Gränitz: Auch obdachlose Menschen sind obdachlos geworden, nicht obdachlos geboren. Das wird ausgeblendet. Wenn Menschen den Zusammenhang zwischen ihren Erfahrungen und dem Leid von obdachlosen Menschen erkennen würden, wäre ein anderer Umgang möglich. Es geht darum, die Krisen der anderen mit der eigenen Krise und der großen gesellschaftlichen Krise zusammenzudenken. Natürlich ist es problematisch, dass der Wohnungsmarkt kapitalistisch organisiert ist. Obdachlosigkeit ist auch eine Frage von Regulierung. Würde man Eigentumsverhältnisse umstrukturieren, hätten die Kommunen mehr Wohnungsbestände und mehr Handlungsfähigkeit. Davon sind wir gar nicht so weit weg: Die Wohngemeinnützigkeit ist zurück und es kommt nun darauf an, sie in der Breite durchzusetzen, um das Abschmelzen der Sozialwohnungsbestände zu stoppen. Und in Berlin entsteht gerade von unten, aus der sozialen Bewegung heraus, ein Vergesellschaftungsgesetz. Schwieriger ist es mit den tiefenpsychologischen Strukturen, die uns von der frühen Kindheit an prägen und unser Handeln beeinflussen. Aber wenn man gesellschaftliche Krisen entschärft, verspüren Menschen zumindest weniger den Druck, auf autoritäre Bewältigungsmuster zurückzugreifen.