„Zeugnissprüche“ an Waldorfschulen: Ein wöchentliches Ritual

An Waldorfschulen müssen Schü­le­r*in­nen jede Woche ihre Zeugnissprüche rezitieren. Doch sie bieten eine Steilvorlage für Mobbing und Schamgefühle.

Trauriges Kind, das den Kopf auf die Arme stützt, sitzt inim Klassenzimmer an einem Tisch, der Ranzen und die Hefte liegen neben ihm

Der Junge hat wohl Probleme mit seinem Zeugnisspruch Foto: Thomas Koehler/imago

Ich bin Samstagskind. Wie die meisten Waldorfkinder weiß ich das, weil wir unseren Zeugnisspruch immer am Wochentag unserer Geburt aufsagen – oder in meinem Fall einen Tag vorher. Den Zeugnisspruch bekommt man während der achtjährigen Klassenlehrerzeit als Teil des Zeugnisses und rezitiert ihn dann jede Woche.

Wenn ich dran war, rief mich meine Lehrerin auf. Ich lief nach vorne, stellte mich vor die Tafel, sagte meinen Spruch auf – und ging dann schnell zurück an meinen sicheren Platz. Es war das Normalste der Welt. Alle haben das gemacht. Auch diese Woche werden schätzungsweise wieder 50.000 Kinder in Deutschland ihren Zeugnisspruch aufsagen.

Als ich vor drei Jahren meine Zeugnisse mit den Zeugnissprüchen erneut las, wurde mir schlecht. Ich war schockiert, wie harmlos ich es damals fand und wie ernst ich es genommen habe. Am schlimmsten war der Spruch aus der 4. Klasse:

„Still für sich geschafft,Ist ein Quell der Kraft. Froh sich andern einzureihen,Lässt das Ganze gut gedeihen,wird vom Eigensinn befreien.“

Ein morgendliches Ritual

So wussten dann alle, inklusive mir, dass ich zu eigensinnig und geschwätzig war, und wurden wöchentlich neu daran erinnert. Oder wie sich der Pädagogikprofessor Prange ausdrückt: „Das zugeschriebene Selbstbild wird öffentlich ritualisiert und bekräftigt.“ Beschwert habe ich mich nie. So war es halt. Genutzt hätte es wohl eh nichts. Ich weiß bis heute von keinem Fall, wo ein Kind einen neuen Zeugnisspruch bekommen hätte, weil es seinen nicht mochte.

Wenn ein Kind den Text vergaß, nuschelte, hampelte oder zu leise sprach, bekam es Hilfe von der Klassenlehrerin. Manchmal wohlwollend, manchmal beschämend oder drangsalierend. Beneidet wurden Kinder mit kurzen Sprüchen, die nicht zu offensichtlich korrigierend waren.

Ich war wahlweise zu verträumt, zu verkopft, zu eigensinnig oder zu flüchtig. Andere Kinder waren zu schüchtern oder zu aufbrausend, zu laut oder zu leise, schafften es nicht, etwas zu Ende zu führen, oder sollten tüchtiger werden. Das war mir immer bewusst, wenn jemand seinen Spruch aufsagte. Sowohl bei mir als auch bei den anderen.

Wenn man nachfragt, können die meisten Waldorfkinder gruselige Geschichten rund um Zeugnissprüche erzählen: dass ein Mitschüler seinen Spruch jedes Mal weinend aufsagte, dass die lispelnde Mitschülerin extra einen Spruch mit vielen Zischlauten bekam oder dass ein Mittwochskind jeden Mittwoch früh Bauchschmerzen hatte und zu Hause blieb. Und selbst wenn es einem selbst leicht fiel und man beim Spruch Glück hatte, beobachtete man gegebenenfalls jede Woche, wie andere Kinder struggelten. Ich hab das damals als sinnvolle Normalität abgespeichert – aber es hat etwas mit mir gemacht.

Steilvorlage für Mobbing

Horst Hellmann, international tätig in der Waldorflehrerausbildung, sagt: „Weil an dem Spruch das ganze Jahr hindurch gearbeitet wird, ist das Zeugnis in seiner Essenz immer präsent, jedoch nicht als moralischer Zeigefinger, sondern, wenn es gelingt, als ‚Arbeit im Gewande der Freude‘.“ Und wenn es nicht gelingt? Dann ist es eine Steilvorlage für Mobbing und Schamgefühle.

Wie können ausgebildete Päd­ago­gen*­in­nen denken, es sei eine gute Idee, einzelne Kinder vor der ganzen Klasse quasi poetisierte Kopfnoten des Zeugnisses aufsagen zu lassen, damit sie „daran wachsen“?!

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