Als Comics Kunst wurden

So breit dokumentiert und sorgfältig erzählt hat man die Geburt der modernen Graphic Novel bislang noch nicht nachverfolgen können wie in den gleich vier Ausstellungen zum Thema, die jetzt im Pariser Centre Pompidou laufen

Pop Art: „Barbarella“ Foto: Abb.: Succession Jean-Claude Forest

Von Ralph Trommer

Auf Französisch heißen Comics bandes dessinées. „La BD á tous les étages“ – „Comic auf allen Etagen“ nennt sich die überragende Schau im Pariser Centre Pompidou, die gleich vier Ausstellungen vereint, verteilt auf mehrere Ebenen des Kunsttempels. Übersetzt lauten sie „Comics im Museum“ (im 5. OG), „Comic. 1964–2024“ (6. OG) und „Corto Maltese. Ein Leben wie ein Roman“ (2. OG). Außerdem gibt es auf der ersten Ebene mit „Tenir tête“ (etwa: „die Stirn bieten“) ein immersives Ferienlager, das von der Comiczeichnerin Marion Fayolle gestaltet wurde: In nomadischen Zelten, die wie halbe Köpfe aussehen, können Kinder ins poetische Universum der Zeichnerin eintauchen. Die mitten in der Bibliothek platzierte Pavillon-Ausstellung „Corto Maltese“ huldigt mit zahlreichen seltenen Originalzeichnungen und Aquarellen in betörenden Pastelltönen dem gleichnamigen Abenteurer und Antihelden aus der Feder Hugo Pratts, enthüllt wichtige Motive sowie literarische Vorbilder des italienischen Zeichners.

Das Centre Pompidou hat die Kunstform Comic seit 1977 schon mehrfach mit Ausstellungen gewürdigt, etwa über bedeutende Pioniere wie Hergé (2004) oder die Humoristin Claire Bretécher (2015). Mit den beiden zentralen „Etagen“-Ausstellungen versucht sie nun, das Medium umfassend und zeitgemäß vorzustellen.

„Comic. 1964–2024“ spürt der Geburt des modernen Comics in der europäischen, amerikanischen und japanischen Welt nach. 1964 wird dabei als Schlüsseljahr definiert. Wurden zuvor Comics hauptsächlich für Kinder und Jugendliche konzipiert, so werden Anfang der 1960er Jahre neue Magazine gegründet, die Gesellschaftskritik üben und komplexe Geschichten erzählen. Der die Ausstellung eröffnende große Saal bekommt entsprechend das Motto „Gegenkultur“. In den USA bringen Comiczeichner wie Robert Crumb selbst geheftete, freche Underground-Magazine heraus, die die Zensur des „Comics Code“ der prüden 50er Jahre ignorieren, während in Frankreich das subversiv-satirische Magazin Hara-kiri (Vorläufer von Charlie Hebdo) ab 1960 erscheint, in der Comiczeichner wie Jean-Marc Reiser oder Georges Wolinski einen bissig-zynischen Humor pflegen. Jean-Claude Forest zeichnet 1964 in Pop-Art-Manier den einflussreichen ­Science-Fiction-Comic „Barbarella“: Erstmals steht hier eine selbstbewusste, erotische Frauen­figur im Mittelpunkt. Und in Japan erscheint mit Garo ebenfalls 1964 ein Avantgarde-Mangamagazin, das einer neuen Generation von Zeichnern erlaubt, persönliche, düstere Geschichten zu erzählen.

Mit diesen parallelen Entwicklungen wurden Grundsteine gelegt für anspruchsvolle Comics bis heute. Japan wird zu Recht gleichberechtigt mit der westlichen Comicgeschichte behandelt und die Mangaka (Comiczeichner) der 60er Jahre sogar als Vorreiter ausgemacht, die bereits vor Europa und den USA autobiografische, anspruchsvolle Geschichten im Sinne heutiger Graphic Novels erzählten.

Die Ausstellung ist in zwölf thematisch geordnete Kabinette unterteilt. Für „Lachen“ (so das Motto) sorgen viele populäre Comicserien, von Franquins chaotischem Büroboten „Gaston“ über „Asterix“ hin zum überbordenden Schabernack eines Gotlib oder zum 68er-Generationenporträt in Claire Bretéchers „Frustrierten“.

Gleich gegenüber widmen die Ausstellungsmacher ein Kabinett dem „Schrecken“, wo Shigeru Mizukis kindlicher Dämon „Kitaro“ in den 60ern makabre Abenteuer erlebt und heutige US-Zeichner wie Daniel Clowes oder Charles Burns albtraumhaft-bizarre Geschichten über Jugendliche in den 80ern und 90ern ersinnen. Das Unbewusste findet seine Reflexion im Kabinett „Traum“, wo der Zeichner Killoffer seine meisterhaft surrealen, schwarzweißen Albträume visualisiert. Ein Höhepunkt ist die ausgefeilte Modellstadt, die der kanadische Zeichner Seth für seine Graphic Novel „Clyde Fans“ dreidimensio­nal entwarf und die im Kabinett „Städte“ aufgebaut wurde.

Allein diese Schau lohnt die Reise nach Paris, die viele seltene originale Comicseiten neben Cover-Illustrationen und Animationsfilmen von 130 Künstlerinnen und Künstlern versammelt und klug Comic-Altmeister wie Alberto Breccia neben weniger bekannte Werke der heutigen Generation (z. B. Rébecca Dautremer) hängt.

Auch die zweite zentrale Präsentation „Comics im Museum“ ist nicht weniger anregend. Sie setzt essenzielle Werke der Moderne aus der Sammlung des Museums für moderne Kunst, das sich im Centre Pompidou befindet, in Beziehung zur Comickunst. Das Museum arrangiert dafür ausgewählte Stücke seiner vielfältigen Sammlung, von Francis Picabia bis Robert und Sonia Delaunay, neu und stellt in den Vitrinen-Gängen dazwischen klassische Werke der Comicgeschichte aus, die zeitlich parallel entstanden sind.

Die Ausstellungen: „La BD à tous les étages“ im Centre Pompidou Paris laufen bis 4. 11.: „La bande dessinée au Musée“; „Bande dessinée 1964-2024“; „Corto Maltese. Une vie romanesque“; „Tenir tête: Une exposition atélier de Marion Fayolle“. Eintritt zusammen: 18 Euro

Publikationen: „La BD au Musée“: 25 Euro; „Corto Maltese“: 25 Euro; „Bande Dessinée 1964–2024“: 45 Euro

Wieder steht ein Jahr als Ausgangspunkt für Entwicklungen in der bildenden Kunst wie im Comic: das Jahr 1905. Auf dem Pariser Herbstsalon präsentierten sich erstmals die „Fauves“, eine Künstlergemeinschaft um Henri Matisse, und lösten wegen ihrer neuartigen Kunstauffassung und den provozierend leuchtenden Farben einen Skandal aus. Im selben Jahr erschien in US-Zeitungen die erste bunte Seite um „Little Nemo“ von Winsor McCay, in der ein Junge in seinen Träumen fantastische Abenteuer erlebt. In fast jeder Folge experimentierte McCay mit der Form, spielte mit Deformationen und Verzerrungen der Körper oder mit den Möglichkeiten des Seitenlayouts.

Ebenfalls 1905 entdeckte Pablo Picasso in Paris die amerikanischen Zeitungscomics (unter anderem die experimentierfreudige Serie „Krazy Kat“ von George Herriman), die Gertrude Stein ihm aus Amerika mitbrachte. Weitere wichtige Künstler wie Hergé (hier mit Skizzen und Originalseiten zum Mondreiseabenteuer von „Tim und Struppi“ vertreten), Calvo (Zeichner des Résistance-Tiercomics „Die Bestie ist tot“, in der Hitler 1942 als Wolf karikiert wird) oder Will Eisner dürfen nicht fehlen. Fokussiert werden zudem 15 zeitgenössische Comiczeichnerinnen und -zeichner, die sich von Kunstwerken der Moderne zu Comics inspirieren ließen oder formale Analogien zu ihnen aufweisen. So greift der Belgier Éric Lambé für seine verrätselte Comic-Hommage „Die Saison der Weinlese“ (2016) Motive aus René Magrittes Werk auf: der Mann im Anzug mit Melone, die Pfeife, Fantômas-Maske, Frauentorsi …

Daneben hängt exemplarisch Magrittes Gemälde „Souvenir de voyage“ von 1926. Der Italiener und Comic-Erneuerer der 80er Jahre Lorenzo Mattotti wiederum weist mit den albtraumhaft-deformierten Kreaturen und den tiefschwarzen Hintergründen in seinen Illustratio­nen zu Gedichten von Edgar Allan Poe (für die Buchversion zu Lou Reeds Bühnenprojekt „The Raven“, 2009) eine ästhetische Verwandtschaft mit Francis Bacons Selbstporträt von 1971 auf. Der Franzose David B. erforscht wiederum in seinem surrealistischen Comic „Nick Carter und André Breton“ (2019) die Traumwelten des Dichters und Theoretikers, von dem das Centre die komplette Atelierwand seiner Wohnung wie ein Kuriositätenkabinett präsentiert.

Verrätselte Auseinandersetzung mit Motiven von René Magritte: Éric Lambé, „La Saison des Vendanges“ Foto: Abb.: David B. et Éric Lambé

Beiläufig wird deutlich: Der Comic ist eine eigenständige Kunstform – seine Wirkung erzielt er durch grafische, aber auch durch erzählerische Elemente, von denen ein Museum nur Auszüge zeigen kann.

Die abwechslungsreiche Marathon-Ausstellung „Comic auf allen Etagen“ setzt neue Maßstäbe, indem sie spielerisches Comicdesign wie bei Marion ­Fayolle innovativ-analytischen Dialogen mit der „neunten Kunst“, wie der Comic in Frankreich auch genannt wird, gegenüberstellt.

Der Besuch sollte möglichst auf mehrere Tage verteilt werden, damit die vielfältigen Werke auch gewürdigt – und vor allem genossen werden können.