Doris Akrap
Geraschel
: Droht Deutschland eine nachholende Balkanisierung?

Foto: privat

Gruppenreise mit Deutschen durch Dalmatien und Bosnien. Dazwischen Wahlen in Thüringen und Sachsen. Fragen die deutschen Reisenden, wie es zum blutigen Ende Jugoslawiens kommen konnte, sind die Locals dran mit Antworten. Der eine sagt Ökonomie, die andere Identität, dann gibt es noch nachholende Nationalisierung, Sprache, Türkenkriege, historische Rache, unaufgearbeitete Vergangenheit, die Dragana und den Ivo.

Fragen die Locals, wie es zu Thüringen kommen konnte, sind die deutschen Reisenden dran. Der eine sagt Ökonomie, die andere Identität, dann gibt es noch Verlustängste, Russland, Wessis, allgemeine Weltlage, den Markus und die Silke.

Es geht viel um die immer tiefer werdenden Gräben im ehemaligen Jugoslawien und darum, dass trotz gleicher Sprache, gleicher Menüs, gleicher Nachrichten immer weniger Menschen dazu bereit sind, sich offen den eigenen Fehlern, Verbrechen und Irrwegen zu stellen. Ein Local sagt zu den deutschen Reisenden: „Tja, das steht euch nun auch noch bevor.“

Eher ein Satz zur Überleitung ins Gesprächs­ende, aber er geht mir nicht aus dem Kopf. Gibt es da wirklich irgendeine Parallele? Ist die deutsche Einheit ähnlich gescheitert wie die unter dem Slogan „Brüderlichkeit und Einheit“ zerfallende Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien? Bereitet Thüringen die Unabhängigkeitserklärung vor? Wird Russland diese Sezession mit Fake News und Waffen unterstützen? Oder tut es das sogar bereits? Findet in Ostdeutschland derzeit eine nachholende Nationalisierung statt, die in den 1990ern trotz aller Pogromstimmung ausblieb, weil man sich letztlich vom Westen schlucken ließ?

Station in Mostar. Wie kann die EU so irre sein und die Bosnier nicht aufnehmen? Die EU hat sich um dieses waghalsige Staatengebilde nie geschert. Alle Jubeljahre kommt mal eine europäische Regierungspolitikerin hier vorbei, wirft Blumen vor einem Denkmal ab und lässt ein paar Notgroschen für ein bisschen Brot und Käse da.

Mitten in diese zerklüfteten Gedanken trifft die Nachricht, dass ein Junge in München mit einer Waffe vor dem israelischen Konsulat herumgelaufen, geschossen haben und erschossen worden sein soll.

Es ist ein Junge aus Österreich, dessen Familie aus dem Nordosten Bosniens stammt. Einer Gegend, die bekannt ist für ihre nach den 1990er-Kriegen hier etablierten islamistischen Ausbildungs- und Feriencamps.Selten aber hörte man beim Besuch europäischer Politiker in Bosnien: „Bissi krass hier. Wäre Ihnen mit einem EU-Beitritt geholfen? Wir meinen jedenfalls, mit vereinten Kräften wäre es möglicherweise einfacher, Terrorzellen zu überwachen, zu identifizieren und für Menschen in Bosnien eine andere Vision zu finden als die Erfüllung in der Scharia.“

Hier erscheinen zwei Kolumnen im Wechsel. Nächste Woche: „Grauzone“ von Erica Zingher

Zurück zu Thüringen. Nicht ausgeschlossen, dass es in Westdeutschland ebenfalls zu einer sezessionistischen Bestrebung kommt. Nicht etwa, weil man AfD-Wähler und rechtsradikale Terrorzellen im Osten so ganz und gar unappetitlich fände, sondern, weil – nicht zu Unrecht – behauptet werden könnte: „Jahrzehntelang haben wir den Osten saniert, während bei uns Brücken, Straßen und Häuser wegbröckeln – es reicht!“

Sicher sind das frei drehende Gedanken unter dem Eindruck einer Reise. Nüchtern betrachtet glaube ich auch nicht, dass Deutschland unmittelbar vor einem Sezessionskrieg steht.

Nicht ausgeschlossen, dass es auch in Westdeutschland zu sezessionistischen Bestrebungen kommt

Aber der Gedanke, Deutschland könnte eine nachholende Balkanisierung erleben, hört sich nur für Westeuropäer absurd an. Für Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien nicht. Die meisten von ihnen hätten noch am Tag vor dem ersten Schusswechsel 1991 nicht geglaubt, dass dieser Staat wirklich auseinanderfliegt.