Männer reifen, Frauen altern

In Camille Laurens’ Roman „So wie du mich willst“ verweigert sich die Protagonistin dem sexuellen Tod, den Frauen, angeblich schon ab 44, im Alter sterben

Camille Laurens Foto: Franck Ferville/VU/laif

Von Marielle Kreienborg

„Ich sah neulich im Fernsehen den Filmemacher Jean-Pierre Mocky“, berichtet die Protagonistin Claire Millecam im Roman der französischen Schriftstellerin Camille Laurens „So wie du mich willst“. „Er brüstete sich, mit über achtzig immer noch zu ficken. ‚Ich krieg immer noch einen hoch‘, sagte er, während er auf eine Schauspielerin schielte, deren Urgroßvater er sein könnte. Das Publikum applaudierte.“ In umgekehrter Rollenverteilung wäre dasselbe Szenario undenkbar: „Stellen Sie sich vor, eine Achtzigjährige sagt so was live im Fernsehen, sagt, sie werde immer noch feucht, während sie begehrliche Blicke auf einen Jüngling wirft.“

Bei Männern, meint Claire Millecam, gäbe es etwas Unlimitiertes, dem nicht irgendwann ein Ende drohe. Man spüre das schon bei ganz kleinen Jungs und manchmal noch bei ganz alten Männern: auch wenn Männer früher stürben, lebten sie länger. Für Frauen dagegen bedeute das Alter den sexuellen wie sozialen Tod – im Roman bezeugt durch Claires Rückzug in die Psychiatrie: „Erst verstand ich nicht, warum ich hier war, ich litt nicht unter Depression, sondern unter Repression: Meine Lebenskraft war unterdrückt worden, das war alles.“

Isolation und Eingesperrt-Sein sind bei Schriftstellerinnen ein wiederkehrendes Motiv: Charlotte Perkins Gilmans „Die gelbe Tapete“, Sylvia Plaths „Die Glasglocke“ oder Marlen Haushofers „Die Wand“. In „So wie du mich willst“ kehrt die Autorin Camille Laurens diesen weiblichen Topos um: Ihr Wahn erlaubt Claire, die sich, selbst(ermächtigend), als „verrückt“ bezeichnet, die Codes des therapeutischen Gesprächs zu brechen und das Autoritätsverhältnis zu ihrem Psychia­ter auszuhebeln: Claire nennt ihn, in transkribierten Gesprächen, in denen allein ihre Stimme zu hören ist, ungebildet, da er Marivaux’ „Falsche Vertraulichkeiten“ nicht kennt und Albert Cohens „Die Schöne des Herrn“ nicht gelesen hat. Sie spürt seine sexistischen Vorurteile auf, vergleicht ihn mit einem Polizisten und offenbart ihm, sich sexuell zu ihm hingezogen zu fühlen. Die 48-jährige Literaturprofessorin, Mutter zweier Kinder und getrennt von ihrem Mann, der mit einer Jüngeren ein neues Leben angefangen hat, hat keine Lust, sich dem Schicksal zu fügen, das ­Institutionen, Medien und sogar die ­Literatur für Frauen ihres Alters vorgesehen haben: „Geh sterben.“

Claire erinnert sich an einen Roman des französischen Schriftstellers Richard Millet, in dem eine Frau mit vierundvierzig beschlossen hätte zu sterben: „Mit vierundvierzig: Das war für sie (oder für ihn!) das Alter, in dem eine Frau ihre Schönheit verliert und ihr folglich nichts anderes übrig bleibt, als sich umzubringen.“ Der Erzähler, ihr Liebhaber, hätte sie in ihrem Vorhaben begleitet, als sei es etwas Unvermeidliches, ebenso unausweichlich wie sein schwindendes Verlangen nach ihr: „Es ist eine Tatsache, immer, überall: Die Männer bringen den Frauen das Sterben bei. Von Norden bis Süden, ob fundamentalistisch oder pornografisch, es ist ein und dieselbe Diktatur. Nur in ihrem Blick zu existieren und zu sterben, wenn sie die Augen schließen.“

Claire verweigert das Unsichtbarwerden als weibliche Frühform des Sterbens und inkriminiert die sexistischen Konventionen, die selbst seriöse Medien tagtäglich reproduzierten: „Erbärmlich“, müsse sie in der Zeitung lesen, „dass Madonna mit fünfundfünfzig noch immer existieren will.“ Der französische Politiker Moscovici und seine dreißig Jahre jüngere Frau würden als „Die Schöne und der Minister“ gerühmt, während Macron als „Omaverführer“ verhöhnt würde.

Im Literaturhaus Berlin berichtet Camille Laurens von einer persönlichen Erfahrung, die in den Roman eingeflossen sei: „Du bist über fünfzig?!“, habe ein Liebhaber fassungslos ausgerufen, als er das Alter der Autorin erfahren habe. Ihre Entgegnung – „Ich bin noch genauso alt wie gestern Abend!“ – habe seine Aversion nicht mildern können. Es habe ihn gewalttätig gemacht, heißt es im Roman, „dass er etwas nicht Begehrenswertes begehrt hatte“.

Claire Millecam bekämpft die ungleiche Aussicht im Alter(n) mit einer erfundenen Identität: dem Facebook-Profil der vierundzwanzigjährigen Claire Antunès. Mittels ihrer fiktiven Doppelgängerin bandelt sie mit Chris an, einem 35-jährigen Fotografen, der sich in ein falsches Foto mit echter Stimme verliebt. Ein Betrugsgefühl kommt nicht auf: „Er liebte meine Stimme, er liebte meine Worte, meine Art zu denken, zu lachen, er sagte es mir, immer wieder. Und außerdem“, erklärt Claire ihrem Psychiater, „haben Sie es ja selbst gesagt: Ich bin auch schön. Blond, einverstanden, älter, einverstanden, aber liebenswert. Was soll also daran falsch sein?“

Der Roman kreiert ein Labyrinth aus Wirklichkeit und Möglichkeit: Jeder Erzählteil enthält zuverlässige und unzuverlässige Anteile, alle glauben, zu täuschen

Was folgt, ist eine Meta-Erzählung, in der jede Geschichte, gemäß dem Matrjoschka-Prinzip, eine weitere und noch eine weitere enthält. Polyphone Erzählformen und -perspektiven, in denen sämtliche Beteiligten glauben, die anderen zu täuschen, und ihrerseits getäuscht werden, prallen aufeinander: „Die Vorstellung gefällt mir, die Vorstellung, dass man nicht alles schreibt, dass man auch geschrieben wird. Dass man es auch anders sehen kann. Dass es auch anders sein kann.“

Der Roman, in Frankreich bereits 2016 unter dem Originaltitel „Celles que vous croyez“ veröffentlicht und im Jahr 2019 mit Juliette Binoche in der Hauptrolle verfilmt, kreiert ein Labyrinth aus Wirklichkeit und Möglichkeit: Jeder Erzählteil – neben Claire kommen ihr Psychiater, eine Schriftstellerin, die in der Psychiatrie eine Schreibwerkstatt leitet und Claires Ex-Mann zu Wort – enthält zuverlässige und unzuverlässige Anteile. Interessanter als die Auslotung von wahr oder falsch scheint die Frage nach der Beziehung von Realität und Fiktion: Welche Formen nimmt das Erzählen, insbesondere das Erzählen von sich, in so unterschiedlichen Dispositiven (die Foucault’sche Diskursanalyse) wie einem therapeutischen Gespräch, einem Facebook-Profil, dem Schreiben eines Romans, dem Brief einer Schriftstellerin an ihren Verleger oder einer Zeugenaussage an? Welche Bedingungen bringen welche Art von Selbstdarstellung(en) hervor?

Für Camille Laurens, die seit 2020 als Nachfolgerin der Autorin Virginie Despentes Mitglied der Académie Goncourt ist, sind alle Menschen Romanautor:innen: „Wir alle sind, durch die permanente Fiktionalisierung unseres Lebens, durch unsere Lügen, unsere Arrangements mit der Wirklichkeit, durch unseren Wunsch, den anderen zu besitzen, zu dominieren, zu beherrschen, wir alle sind potenzielle Romanciers. Wir alle erfinden unser Leben.“ Dementsprechend ambivalent steht Laurens der Verwendung des – immer noch hauptsächlich für Schriftstellerinnen gebrauchten – Gattungsbegriffs der „Autofiktion“ gegenüber: „In französischen Medien wird der Begriff häufig zur Geringschätzung des Schreibens von Frauen missbraucht: nichtliterarisch, narzisstisch, nabelschauend; Hausfrauen, die ihre kleinen Geheimnisse ausplaudern.“ Für Autoren, die ebenfalls eindeutig autofiktional schreiben würden, Philippe Sollers oder Emmanuel Carrère, würde er hingegen nie verwendet.

Camille Laurens: „So wie du mich willst“. Aus dem Französischen von Lis Künzli. dtv Verlag, München 2023, 208 Seiten, 23 Euro.