schlagloch
: Schmuddelbegriff Frieden

Der Krieg in der Ukraine wird mittlerweile als Dauerereignis hingenommen. Das macht es möglich, die Bilder aus Gaza in den Alltag zu integrieren

Von Deutschland aus will die Nato künftig Ziele tief in Russland erreichen können – dem dient die geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen. Das Vorhaben geht auf die Zeit vor Putins Angriff auf die Ukraine zurück, doch eignet sich die russische Aggression nun natürlich gut zur Begründung. Wie herum man es auch betrachten mag: Russland wird auf die Nato-Pläne seinerseits reagieren, es gibt wieder einen Ost-West-Konflikt mit Aufrüstungsspirale.

Ein Déjá-vu ist das dennoch nicht. Im Vergleich zur Debatte über die sogenannte Nato-Nachrüstung im Westdeutschland der frühen 1980er Jahre fällt vor allem auf, was anders ist. Damals reichte eine gut informierte Gegenöffentlichkeit, im Bund mit der Friedensforschung, bis in die gesellschaftliche Mitte. Heute dominieren Ohnmachtsgefühle, Desorientierung, Defätismus. Und die stärkste Opposition im Land ist mittlerweile das rechte Ressentiment.

Frieden ist zu einem Schmuddelbegriff geworden, er wird assoziiert mit Russlandfahnen, rechtsoffenen Youtube-Kanälen und Gesängen grauhaariger Männer und Frauen. Und selbst jener Moment im Februar 2022, unmittelbar nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, als sich Hunderttausende in Berlin gegen Putins Aggression und gegen den Krieg als solchen versammelten, scheint bereits wie aus einer anderen Zeit – Zivilität und zivilgesellschaftliches Handeln waren noch nicht entwertet.

Seitdem aber: zwei unendlich lange Kriege, jener in der Ukraine und der in Gaza seit dem 7. Oktober. Sie sind bei aller Unterschiedlichkeit miteinander verkettet, einerseits durch die deutsche Unterstützung und andererseits durch das, was sie in uns anrichten: intellektuell, emotional, ethisch. Wie der Ukrainekrieg als Dauerereignis hingenommen wird, als Fototapete einer neuen Zeit, zeigt eine Abstumpfung, die es ihrerseits möglich macht, die Gräuelbilder aus Gaza zu ertragen, sie in den Alltag zu integrieren.

Die entgrenzte Kriegsführung im Nahen Osten wird wiederum Entgrenzungen auf anderen Schauplätzen nach sich ziehen. In der Welt „nach Gaza“ wissen alle potenziellen Kriegsakteure: Das massenhafte Töten humanitärer Helfer ist möglich. Das Bombardieren dicht besiedelter Gebiete ohne Fluchtoption ist möglich. Und es ist möglich, den Schrei der Gepeinigten zu überhören. So verhilft auch Gaza dazu, Kriegsführung künftig hinzunehmen.

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Charlotte Wiedemann ist Autorin in Berlin, viele Jahre mit dem Schwerpunkt islamische Lebenswelten. Zuletzt erschien „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgeschichte“ (Propyläen).

Die Schlagloch-Vorschau:

11. 9. Ilija Trojanow

18. 9. Gilda Sahebi

25. 9. Georg Diez

2. 10. Robert Misik

9. 10. Georg Seeßlen

In beiden Kriegen werden die westliche Freiheit und Zivilisation verteidigt. Das ist beim Ukrainekrieg die offizielle Position von EU und Nato, beim Gazakrieg die schrille Ansage des Netanjahu-Kabinetts, der die Bundesregierung nicht widerspricht. Die von Deutschland gelieferten Waffen sind folglich nicht Verursacher von Tod und Zerstörung, sondern Instrumente von Ethik und Moral. Waffen als gut zu imaginieren, war von jeher ein Kern des Kriegsdenkens. Wie Militärgeistliche früherer Zeiten Panzer und Kanonen segneten, wirkt heute absurd. Aber ist der Segen, den die Staatsräson erteilte, davon so weit entfernt?

Mit der Parteinahme in einem Krieg geht ein kriegerischer Moralismus einher, ein bestimmter Blick nicht allein auf das Geschehen, sondern auf die darin verwickelten Menschen. Nachdem Putins Raketen die Kinderklinik in Kyjiw zerstörten, rühmte sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser, binnen Tagen schwerkranke Kinder nach Deutschland evakuiert zu haben. Schwerverletzte Kinder aus Gaza aufzunehmen, verhinderte sie über Monate wegen Sicherheitsbedenken. Kind und Kind sind nicht gleich, das Kriegsdenken macht sie zu Ungleichen.

Dies alles sind keine Automatismen, sondern die Folgen von Entscheidungen. Man kann deshalb durchaus das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine unterstützen und zugleich die Militarisierung unserer Gesellschaft ablehnen, zwischen beidem besteht keine organische Verbindung. Im Gegenteil: Zu einer Zeit, in der die Demokratie in Deutschland von innen viel mehr gefährdet ist als von außen, gießt der neue Kult ums Militärische Öl ins Feuer. Die Sprache der Kriegsertüchtigung ist Bestandteil eines anschwellenden Autoritarismus der Mitte, mit einem spezifisch deutschen Gesicht: NS-Jagdflieger versuchsweise wieder vorbildhaft zu finden, beißt sich nicht mit dem Ankauf eines israelischen Luftverteidigungssystems.

Eine vom Westen dominierte Weltordnung geht dem Ende zu, und kein Nato-Programm wird diesen Trend umkehren können. So wie sich auch die Spur gescheiterter Kriege und Militärmissionen nicht verwischt, von Irak über Afghanistan bis zum Sahel: misslungene Versuche des Westens, sich als Ordnungsmacht zu beweisen. Zurück blieben schlimmere Verwerfungen, denn für all diese Krisen galt, was friedensbewegte Berliner Israelis in Bezug auf Gaza jeden Freitag vor dem Auswärtigen Amt skandieren: „There is no military solution!“

Jetzt, da die Demokratie von innen gefährdeter ist als von außen, gießt der neue Kult ums Militärische Öl ins Feuer

Vielleicht ist dieser dünne, hilflose Ruf das Beste, Klügste, Vernünftigste, was gerade vorstellbar ist. Ein Anfang zumindest, um aus dem galoppierenden Irrsinn zu desertieren, aus dem Kriegsdenken und aus einer Blockkonfrontation – antirussisch heute, antichinesisch morgen –, die uns als unvermeidlich verkauft wird. Zum geistigen Desertieren muss indes auch gehören, sich von einem falschen linken Campismus zu befreien, es gibt mehr als einen Imperialismus. Emanzipatorische Linke haben kein Lager, außer jenem, das sie entlang universeller Werte mit anderen konstruieren, als eine neue Art von dritter Welt.

Gewiss, die Weltverhältnisse sind so komplex, dass alles Begreifen den Ereignissen stets hinterherhechelt. Unsicher sein, sich keiner Seite zugehörig fühlen, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern kann, sofern nicht von moralischer Indifferenz genährt, ein erster Schritt zur Stärke sein. Von jenen, die sich gefährlich sicher sind, gibt es bereits zu viele.