Ein Hausarzt für alle Fälle

Vor zehn Jahren zog Benjamin Pfefferkorn in den östlichsten Osten Deutschlands. Dort rettet er Jugendstil-Villen, die niemand mehr haben will, vor dem Abriss

„Ein bisschen was Unmögliches“ hat er sich vorgenommen, sagt Benjamin Pfefferkorn Foto: Micheline Richau

Von Leonie Gubela

Eigentlich ist Benjamin Pfefferkorn Architekt. „Hausarzt“ trifft es seiner Meinung nach aber sehr viel besser.

Draußen: Am Ufer der Mandau, nur ein paar hundert Meter entfernt von der Stelle, wo der kleine Fluss in die Neiße mündet, steht ein umzäunter Jugendstil-Bau, der aussieht, als hätte er eine schwere Hautkrankheit. Die Fassade ist großflächig abgebröckelt und legt roten Backstein frei, aus der Dachrinne wächst Grün wie Haare aus den Ohren. Man erkennt noch, dass das Haus mal sehr hübsch war und vor Kraft strotzte. Jetzt könnte es jederzeit kollabieren. Das sagt zumindest die Bauaufsicht, aber Benjamin Pfefferkorn sieht das anders. Altersschwach ist es vielleicht, aber einstürzen wird es nicht, dafür kennt der 65-Jährige es viel zu gut.

Drinnen: Pfefferkorn, großgewachsen, wellige braune Haare, ist der Besitzer des Bauwerks im Zittauer Süden, würde sich selbst aber eher als dessen „Hausarzt“ bezeichnen. Weil er das Wortspiel süß findet und weil es sich für ihn wirklich so anfühlt. Jeden Tag ist er hier und begutachtet die akutesten Wunden: Wo muss er abdichten, ausräumen, abstützen? „Wo ist wieder was eitrig?“, sagt er und meint das fast ernst. Tatsächlich steht es nicht gut um den Patienten: Ganze Etagen lassen sich nicht betreten, weil der Untergrund fehlt, Türen hängen in der Luft, man guckt bis hoch unters Dach.

Zucker: Pfefferkorn führt raus in den Garten, der ein Berg aufgeschüttete Erde ist, darauf zwei Holzstühle und ein Tisch, es gibt Kekse und Kaffee aus der provisorischen Küche. Das Nachbarskind will Zuckerstückchen abgreifen und mit den Holzpfählen spielen, die aufeinandergestapelt auf dem Grundstück liegen. „Sie weiß, dass sie rüberkommen darf, wenn ich gerade nichts mache“, sagt er. „Bemnalin, bitte?“, fragt sie, wenn sie noch ein Zuckerstückchen will.

Riesenrad: Benjamin „Bemnalin“ Pfefferkorn ist Architekt und aufgewachsen in West-Berlin, in einer Villa am Nikolassee. „Bunt dekadent“ ist das erste Wort, das ihm zu seiner Kindheit einfällt. Der Vater war Justiziar bei Schering, der Firma, die in Deutschland die erste Antibabypille auf den Markt brachte und später von Bayer gekauft wurde. Die Mutter, Elisabeth Niggemeyer, ist Fotografin und Autorin verschiedener Bücher zum Thema Städtebau und Pädagogik. Sonntags traf man sich bei Pfefferkorns zum Kaffeetrinken und Boulespielen. Künstler und Kulturschaffende, Architekten und Unternehmer tummelten sich im Wohnzimmer, wo statt einer Couchgarnitur eine Tischtennisplatte stand und daneben ein Flipperautomat. Als Kind träumte Benjamin Pfefferkorn davon, dass noch ein Riesenrad dazukommt.

Vorschule: In einer Schublade versteckt die Mutter damals Bargeld für den Fall, dass „der Russe kommt“ und Soldaten bestochen werden müssen. Immer, wenn der Kalte Krieg heißer wird, bemerkt Benjamin Pfefferkorn das auf seinem Schulweg: Im Bus sitzen dann bewaffnete GIs. Mit deren Kindern und denen der Diplomaten geht er auf die John-F.-Kennedy-Schule in Zehlendorf, die damals nach amerikanischem Vorbild auch Vorschulklassen hat. Seine Mutter fotografiert die lernenden Kinder und bringt mit zwei Erziehungswissenschaftler:innen, ein Buch heraus, das die Vorschulpädagogik prägen wird.

Gemordete Stadt: Ein weiteres ihrer Bücher wird den Lebensweg ihres Sohnes mitbestimmen. Es heißt „Die gemordete Stadt“ und ist ein von ihr bebilderter Essay, der die Monotonie der Nachkriegsmoderne beklagt und den Abriss wilhelminischer Quartiere. Pfefferkorn lernt früh, dass es in der Architektur nicht nur um Neubau und Selbstverewigung gehen sollte, sondern auch ums Reparieren und Erhalten.

Grüne Wurzeln: Wegen dieses Buchs sitzt er jetzt hier, in einer Ruine im östlichsten Osten Deutschlands, und bewahrt sie vorm endgültigen Verfall. Anders kann er sich nicht erklären, was er da eigentlich tut. Vor zehn Jahren zog Pfefferkorn nach Zittau, der Liebe wegen. Die Liebe schwand, Pfefferkorn blieb – und machte sich nützlich. Denn in der Stadt sei es jeden Abend „beängstigend leer“ gewesen, „das einzige Leben, das ich hier gesehen habe, war in einem vollen NPD-Laden in der Äußeren Weberstraße“. Und so habe er sich seiner „grünen Wurzeln“ entsonnen, das leerstehende Erdgeschoss seines Wohnhauses in der Inneren Weberstraße umgebaut und den Grünen als Quartier angeboten. Deren Parteimitglieder hatten sich in Zittau bisher in Privatwohnungen oder Kneipen getroffen.

Raumwohlstand: Mittlerweile gehören Pfefferkorn auch noch das alte Fischhaus, das Zweikronenhaus und eben die Immobilien am Ufer der Mandau. Alle für wenig Geld erworben. Er hat nicht die Mittel, sie vollends zu sanieren, aber sie am Leben halten, vor dem Abriss bewahren, das kann er. Vor der Wende sei in Zittau jede Dachkammer belegt gewesen, erzählt Pfefferkorn. 50.000 Menschen wohnten damals in der Stadt, jetzt ist es nur noch knapp die Hälfte. „Betrachtet man es positiv, könnte man sagen, es herrscht Raumwohlstand“, sagt er. Doch nach Jahren des Erhaltens wünscht er sich, dass die alten Gebäude wieder irgendeinen Nutzen bekommen.

Vielen historischen Altbauten in Zittau droht der Verfall Foto: Foto:Leonie Gubela

Toleranz: Das Fischhaus würde er am liebsten dem Verein „Augen Auf“ vermachen, der sich für Zivilcourage einsetzt und Mitorganisator der montäglich stattfindenden Demos gegen die rechtsextremen „Spaziergänger“ auf dem Rathausplatz ist. Aktuell finden in den Fischhaus-Räumlichkeiten Kunstaktionen zum Thema Toleranz statt, die Pfefferkorns Freundin Micheline Richau organisiert. Das ebenfalls in der Innenstadt gelegene Zweikronenhaus war früher mal Sitz einer Kleiderfabrik, die Anfang der Neunziger schloss. Mit Schü­le­r:in­nen vom Zittauer Gymnasium erarbeiteten Pfefferkorn und Richau eine Chronik der Unternehmensgeschichte, sprachen mit Zeit­zeug:­in­nen und richteten Räume originalgetreu her.

Dreiländerpunkt: Aus den Gebäuden am Mandau-Ufer würde Pfefferkorn am liebsten ein Hotel machen. Der Dreiländerpunkt mit Tschechien und Polen ist um die Ecke, Rad­tou­ris­t:in­nen fahren täglich dort vorbei, aber dann leider durch Zittau hindurch, weiter nach Görlitz. Man müsse die in der Stadt behalten, findet Pfefferkorn, am besten über Nacht, durch eine attraktive Unterkunft mit Lademöglichkeit fürs E-Bike. Und auch der Dreiländerpunkt könnte noch mehr Leute anlocken. Zu sehen sind da bloß drei große Flaggen mit drei großen Heiligen Kreuzen davor, dazwischen plätschert die Neiße, südlich am Horizont ragt das Zittauer Gebirge auf. Wenn es nach Benjamin Pfefferkorn ginge, würde man auf der riesengroßen freien Wiese neben den drei Flaggenmasten ein Fußballfeld einzeichnen. Aber nicht irgendeines. Sondern eines, auf dem drei Mannschaften gleichzeitig gegeneinander spielen können. Dreikick nennt sich das.

Überbleibsel Foto: Leonie Gubela

Kicken: Das ist keine Träumerei, sondern hat sogar schon stattgefunden. Mehrere Mannschaften à sechs Personen aus Deutschland, Tschechien und Polen traten in Sommerturnieren gegeneinander an. Was es jetzt noch brauche, sei ein Dreikick-Stadion als fester Ort der Begegnung – denn die Nationen lebten viel zu sehr aneinander vorbei. Das wäre mal ein sinnvolles Bauprojekt, findet Pfefferkorn.

Italienisch: Für seine Gebäude wünscht er sich, dass er sie irgendwann an Menschen abgeben kann, die sie zu schätzen wissen und für Dinge nutzen, die Zittau guttun. Damit er irgendwann nicht mehr das Bedürfnis hat, vor jeder Wahl die Flucht zu ergreifen. „Zittau ist so schön, finde ich“, sagt er. „Es hat was Italienisches“. Der Sudeten­blick: „Irre! Wie die Toskana!“

Glück: Die Menschen im Ort mit ihren ausgebauten Häusern und schicken Autos hätten teilweise ein „merkwürdig schlechtes Selbstbewusstsein, eine Verschlossenheit an sich“, sagt Pfefferkorn. Erst neulich sei er wieder mit den Nachbarn in Streit geraten, die bis spät in die Nacht „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ gesungen hätten. Trotzdem will er bleiben, denn mit den Häusern komme eben auch Verantwortung. Er habe sich damit „ein bisschen was Unmögliches“ zugemutet, etwas, „das schon auch mit Größenwahn zu tun hat“. Aber wenn er alleine oben auf dem Dach sitze, irgendeine Stelle abdichte und sich dabei vielleicht noch einen Sonnenstich hole, trete er in den Dialog mit den Häusern. „Und dann bin ich total glücklich.“