schlagloch
: Das Prinzip Clan-Herrschaft

Der Liberalismus wollte Klasse als soziale Struktur überwinden. Aber nun definieren die Rechten Klasse neu, und Familie soll wieder heilig werden

Ich habe, nenn es Glück oder Pech, eine mehr oder weniger intensive Beziehung zu Familienbanden höchster sozialer Divergenz. Honoré de Balzac oder Emile Zola könnten neidisch geworden sein ob solcher Vielfalt in einem Familienroman: Da sind Bauern und Handwerker, Bourgeois, komplett mit Unternehmen und Reichtum, Kleinbürger jeder Art, von Beamten bis zu berufsmäßigen Dissidenten. Auch einen katholischen Pfarrer und eine protestantische Ordensfrau (doch, das gibt’s!) gehören zu den Lebensweisen, die von einem imaginären Zentrum aus­gehen. Familie ist eben Schicksal, irgendwie.

In den Einzelteilen dieses unsicheren Netzes, gemeinhin „Kleinfamilie“ genannt, wird freilich das andere Schicksal verwaltet, gepflegt, verabscheut: das Schicksal der Klasse. Und so brechen noch im feuchtfröhlichsten oder sentimentalsten Zusammentreffen (vorzugsweise bei Hochzeiten und Todesfällen) einer Familie gern auch wieder die Klassengegensätze auf, mal in Form übertriebener Rücksichtnahme, mal in Form schierer Verachtung. Dass jeder Mensch zugleich einer Klasse und einer Familie angehört, ist Stoff für Dramen und Komödien genug. Im Theater und im Kino müssen wir über das lachen, woran wir im wirklichen Leben fast verzweifeln können.

Was daraus befreit, ist die unvergleichliche Individualität. Familie hin und Klasse her, ich bin schließlich immer noch ich, the one and only Schorsch. Dreimal also wurde dieser Kerl „konstruiert“, durch seine Familie, durch seine Klasse und durch seine Biografie. Und die wiederum wurde maßgeblich durch seine Versuche geprägt, sich der einen oder der anderen Ordnung der Welt zu versichern oder sich ihr zu entziehen. Das Dreieck von Familie, Klasse und Individualität jedenfalls ist nicht so stabil, wie es Religionen, Regierungen und Ideologien gern hätten. Die Familie kann mich mal (diese bornierten und korrupten Arschlöcher!) Und die Klasse… äh, welcher Klasse gehöre ich eigentlich an? Schließlich verlief auch mein Sozial- und Erwerbsleben alles andere als linear. Man durchlief proletarische, prekäre, gegenkulturelle und kleinbürgerliche Stadien, nur um dann genau dort zu landen, wo man am wenigsten hinwollte: mittenmang in der Mittelschicht. Hier kann man vielleicht ein bisschen Ironie pflegen, aber mit dem Klassenbewusstsein ist es nicht weit her. Deswegen entwickelte sich hier die Tendenz, in moralischem Eifer sich um die Angelegenheiten anderer Klassen, anderer Länder und anderer Systeme zu kümmern. Weil man am eigenen Ort keinen rechten Sinn findet, muss er wohl irgendwo da draußen liegen.

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Georg Seeßlenist freier Autor und hat über 20 Bücher zum Thema Film veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm „Coronakontrolle. Oder nach der Krise ist vor der Katastrophe“ bei bahoe books.

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Das dazugehörige System nennt man Liberalismus. Es besagt, dass dieses Individuum, genauer gesagt seine Freiheit und sein Besitz das Zentrum aller Bemühungen um die Ordnung der Welt sei. Sowohl die Familie als auch die Klasse, wenn man im Liberalismus überhaupt von so etwas spricht, sollen dafür nur Hilfsmittel sein. Das hört sich zunächst mal ganz okay an, zumindest so lange, als genug für alle da ist und der Staat – in Deutschland laut Grundgesetz dazu verpflichtet – die ärgsten Ungleichheiten fürsorglich bearbeitet. Aber nach und nach wird dieser Liberalismus gegenüber der familiären wie gegenüber der Klassenstruktur blind. Am liebsten erklärt er alles, was nicht direkt mit individueller Freiheit und Besitz zu tun hat, zum kulturellen Außenbezirk, in den sich ein anständiger Liberaler nie ohne wissenschaftliche Begleitung zu begeben hat. In Krisenzeiten oder unter einer Regierung zum Beispiel, die schon im Namen die Pointe ihres schlechten Witzes verrät, gelangen die inneren Schwierigkeiten des Liberalismus wieder an die politische Oberfläche.

Nun erinnert ein Häufchen versprengter Linker an die Klasse und die Kämpfe, die mit ihr und für sie geführt werden, derzeit offensichtlich von oben und käme gern wieder auf das Sein zu sprechen, das bekanntlich das Bewusstsein bestimmt. Ein rechter Mainstream drängt indes in die genau entgegengesetzte Richtung: Die Familie soll wieder heilig werden. Mehr noch, wir sollen alle nur noch eine große Familie sein, und diese Familie soll den Namen „Volk“ tragen. Und das eine soll das andere errichten: Nach einer der mittlerweile verbreiteten Untersuchungen zum Verhalten anti-demokratischer (antiliberaler!) Rechter und ihres Nachwuchses kommen die jugendlichen Neofaschisten mit der rechten Bewegung am meisten vermittels ihrer Familie in Kontakt und am ausgeprägtesten scheint dabei die Funktion des Vaters zu sein.

Der Liberalismus in seiner jetzigen Form – nennen wir ihn den verblödeten Liberalismus – steht dieser Entwicklung ratlos gegenüber: In der politisch-ökonomischen Wirklichkeit wird die Struktur einer gnadenlosen Klassengesellschaft wieder errichtet, die der Liberalismus in seiner Verbindung von Demokratie und Kapitalismus zu überwinden versprach, und in der politisch-mythologischen Reaktion wird die Struktur des Familiären als Ordnungsmacht gefordert. Tatsächlich funktioniert ja auch die Mafia nur, insofern sie „familiär“ organisiert ist, hierarchisch aber auch schützend. Und die Organisationsstruktur der populistischen Rechten offenbart, wenn sie einen Bereich der Macht okkupiert haben, ihre familiäre Struktur: Donald Trump, Giorgia Meloni oder Marine Le Pen. Sie alle festigen ihre Macht, indem sie ihre Familienmitglieder in einflussreiche Positionen hieven. An die Stelle der liberalen Meritokratie und der demokratischen Wahl tritt das Prinzip einer „Clan-Herrschaft“: Das Prinzip Familie, als Herrschaftspraxis und zugleich als völkischer Wunschtraum, triumphiert über die Prinzipien Klasse und Individualität.

Wir sollen alle nur noch eine große Familie sein, und diese Familie soll den Namen „Volk“ tragen

Der Liberalismus, wie wir uns an ihn gewöhnt haben, hat die Fähigkeit verloren, zwischen familiärer und Klassenstruktur einer Gesellschaft zu vermitteln. Das Dreieck ist zerbrochen. Und damit die innere Stabilität einer Zivilgesellschaft, die sich in der Tat als Zivilisationsprojekt verstand. Wird Zeit, sich etwas Neues auszudenken.