Wunderlinge im Heu

Der ukrainische Schriftsteller Hryhir Tjutjunnyk hatte mit seinen naturlyrischen Erzählungen in der Sowjetunion einen schweren Stand. Nun erscheinen „Drei Kuckucke und eine Verbeugung“ erstmals in deutscher Übersetzung

Von Katharina Granzin

Wahrscheinlich hat er in mindestens einer Erzählung ein wenig auch sich selbst porträtiert. Es ist auf jeden Fall gut vorstellbar, dass Hryhir Tjutjunnyk eben solch ein Kind war wie der Junge Oles in der Erzählung „Der Wunderling“ – oder es hätte sein können, wenn die Zeiten andere gewesen wären. Einer, der selbstvergessen in der Natur umherstreift, Bilder in den Schnee malt, über dem Beobachten von Tieren gänzlich die Zeit vergisst und der, wenn in der Schule verlangt wird, dass alle Kinder einen Blumentopf abmalen, stattdessen einen Specht zeichnet, der die Lehrerin verächtlich aus einem Auge anblickt. Letztlich sind sie aber alle in irgendeiner Weise „Wunderlinge“, die Menschen in den hier versammelten kurzen bis mittellangen Prosastücken, die Momentaufnahmen des Lebens gleichen. Zwar waltet in allen Texten eine gewissermaßen natürliche narrative Dramaturgie, und doch wirken sie dabei oft wie flüchtig eingefangene Impressionen. Es sind Ausschnitte eines Daseins zwischen den Traditionen einer dörflich-bäuerlichen Existenz und den Anforderungen des Lebens in einer modernisierten, sowjetisierten Welt.

Hryhir Tjutjunnyk lebte von 1931 bis 1980, überstand als Kleinkind den Holodomor, erfuhr eine Kindheit voller Entbehrungen und Strapazen und studierte als Erwachsener in Charkiw russische Literatur, um sich als Autor aber bald dem Ukrainischen zuzuwenden. Im sowjetischen Literaturbetrieb war er ein marginalisierter „Wunderling“, der mit seiner naturlyrischen, liebevoll dem einzelnen Menschen zugewandten Prosa nicht ins Raster des sozialistischen Realismus passte. Er litt sehr unter der ausbleibenden Anerkennung und beging mit 48 Jahren Selbstmord.

Etliche der Texte aus dem Band sind zu Tjutjunnyks Lebzeiten nie veröffentlicht worden

Wundervoll farbig, sinnlich, hingebungsvoll durch genaues Hinsehen und Erfühlen noch die kleinsten Einzelheiten belebend, stellt Tjutjunnyk die Natur dar. Da gibt es, nur zum Beispiel, ein Abendrot, das „als tiefroter Streifen am Horizont aushärtete. Auf dem Fluss glänzte matt das nach dem Tauwetter dünne Eis, es roch nach überfrorenen Weidenästen und trockenem Schilf“. Und sofort steht man lesend mitten in dieser Landschaft, angeregt, sie mit allen Sinnen zu imaginieren – im besten Fall so intensiv wie der Protagonist der Erzählung „Geröstete Kartoffeln“, der sich von einem Baum einen kleinen Vorrat an Kiefernharz abpult: „Den nimmt er mit auf den Dachboden […], legt sich auf einen Heuhaufen oder ein Ährenbündel und liegt dann einfach nur da, mit geschlossenen Augen und einem Lächeln, weil das Harz nach jungen Zapfen duftet, das Dach knarzt im Wind, und Tymocha wähnt sich im Kiefernwald…“

Die Präsenz der lebendigen Natur, und sei es nur in der Fantasie, ist ein stets vorhandener Trost in diesen Erzählungen. Und Trost haben sie wohl alle, wenn auch in verschiedenem Maße, nötig, die Menschen, die darin porträtiert werden. Denn auch wenn von ihnen oft nur aus der Perspektive eines äußeren Beobachters erzählt wird, ist doch deutlich, dass das Leben ihnen viel abverlangt. Irgendwie müssen sie aber doch existieren, und sei es in eigentlich unnötig übergroßer Einsamkeit wie in der Erzählung „Der Ahornspross“, worin ein sehr alter, ans Haus gefesselter Mann noch jede Gelegenheit, seine Isolation für Momente zu überwinden, durch sein erratisches Verhalten selbst torpediert.

Ein Bergdorf am Fuße der ukrainischen Karpaten Foto: Yuriy Brykaylo/imago

In anderen Erzählungen werden die gesellschaftlichen Umbrüche mit ihren Folgen für das ländliche Leben sichtbar. Am deutlichsten treten sie in der Erzählung „Wie sie Katrja verheirateten“ zutage, in der eine junge Frau, die längst fern vom Heimatdorf in der Produktion arbeitet, zu den Eltern kommt, um ihre Hochzeit im alten Zuhause zu feiern. Für die Menschen im Dorf eine schöne Gelegenheit, bei Gesang und Gelage zusammenzukommen; doch wissen alle, dass es für die Eltern ein trauriger Tag ist, da nun auch die jüngste Tochter für immer aus ihrem Leben verschwinden wird. Auch wirken weder Braut noch Bräutigam besonders glücklich.

Es ist leicht zu verstehen, warum Tjutjunnyk, der hartnäckig den kulturpolitischen Anforderungen widerstand, optimistische Aufbauliteratur abzuliefern, mit seinen Erzählungen zu Sowjetzeiten einen schweren Stand hatte. Etliche der in diesem Band versammelten Texte sind zu seinen Lebzeiten nie veröffentlicht worden, wie aus dem informativen Nachwort von Beatrix Kersten zu erfahren ist. Kersten hat nicht nur als Herausgeberin die Auswahl der Texte, sondern auch die fantastisch schön geratene deutsche Übersetzung besorgt. Deren Korrektheit beim Sprachtransfer kann an dieser Stelle nicht bewertet werden, doch ist ihr von vorne bis hinten anzumerken, wie sehr die Übersetzerin den Autor und seine Sprache schätzt.

Hryhir Tjutjunnyk: „Drei Kuckucke und eine Verbeugung. Erzählungen“. Ausgewählt und aus dem Ukrainischen übersetzt von Beatrix Kersten. Weissbooks, Berlin 2024, 224 Seiten, 24 Euro