Reisen durch die Amerikas

Beim Musikfest Berlin gab es zum Auftakt gleich zwei starke Konzerte: das São Paulo Symphony Orchestra mit amerikanischer Musik der Moderne und die São Paulo Big Band mit Música Popular Brasiliera

Von Tim Caspar Boehme

Das Musikfest Berlin bietet alljährlich ein Gipfeltreffen internationaler Spitzenorchester und weiterer Ensembles. Was für ein durchgehend hohes Niveau sorgt. Zugleich hat sich in den 20 Jahren, seit denen es als Nachfolger der Berliner Festwochen veranstaltet wird, ein wenig Routine gebildet. Manche Künstler sind Dauergäste, der hervorragende Pianist Pierre-Laurent Aimard etwa oder das Concertgebouw Orchestra, das in den vergangenen beiden Jahren zudem das Eröffnungskonzert bestritt.

Für die 20. Ausgabe gab es zur Eröffnung am Sonnabend diesmal etwas anderes. Nicht bloß spielte das São Paulo Symphony Orchestra ein Konzert mit ungewöhnlichem Programm, sondern es teilte sich den Abend in der Philharmonie auch mit der São Paulo Big Band, die zu späterer Stunde auftrat.

„Amériques“ heißt die Überschrift dieses Musikfests nach einem der bekanntesten Orchesterstücke des Avantgardisten Edgar Varèse. Dieses Werk hatte der Dirigent des Orchesters, Thierry Fischer, mit anderen Werken amerikanischer Komponisten aus dem 20. Jahrhundert zu einem panamerikanischen Programm verbunden, das die USA, Brasilien und Argentinien miteinander ins Gespräch brachte, und das mit Musikern, die eher international als national ausgerichtet waren.

Es ist laut und scheppert. Nimm das, übersättigtes Bildungsbürgertum!

So gründete der in Frankreich geborene Varèse, der 1927 US-amerikanischer Staatsbürger geworden war, im folgenden Jahr die „Pan-American Association of Composers“, um den Austausch von Künstlern in Nord-, Mittel- und Südamerika zu fördern. Finanziell unterstützt wurde der Verband durch den Versicherungsunternehmer Charles Ives. Dieser hatte seinen Wohlstand unter anderem dazu genutzt, um sich als Komponist fernab der Regeln des Musikbetriebs zu betätigen, und wurde so einer der Pioniere der US-amerikanischen Moderne. Seinen 150. Geburtstag am 20. Oktober würdigt das Musikfest mit einem eigenen Schwerpunkt.

Ives’ kurzes Orchesterstück „Central Park in the Dark“ stand am Anfang des Konzerts des São Paulo Symphony Orchestra. Grundlage ist ein dissonanter Streicherteppich, dessen träges Kreisen eine Art Hintergrundrauschen bildet, über das sich nach und nach andere Klänge legen: Zwei Klaviere treten in Ragtime-Wettstreit, ein Schlagzeug rattert vor sich hin. Ives wollte mit dieser Programmmusik die Geräusche nachbilden, die Besucher im Central Park zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu hören bekamen. Eine Collage, die gerade in ihrer direkten, fast plumpen Art immer noch erfreulich frech wirkt.

Umso expressiver präsentierte sich das neueste Werk des Abends, das Konzert für Violine und Orchester des argentinischen Komponisten Alberto Ginastera aus dem Jahr 1963, ein Auftragswerk für die New York Philharmonic. Ginastera, der in Brasilien und den USA studierte, verarbeitete in seiner Musik europäische ebenso wie nordamerikanische Einflüsse und kombinierte sie, inspiriert vom Ansatz Béla Bártoks, mit argentinischer Folklore. Im Violinkonzert konnte der ukrainische Solist Roman Simovic gleich zu Beginn in einem Solopart mit komplizierten Doppelgriffen seine technischen Fähigkeiten beweisen. Dass dieses Konzert vor allem oft widerstreitende Gefühle ausdrückt, machten die Orchestermusiker und Simovic im zweiten Teil deutlich, der als „Adagio per 22 solisti“ die Einteilung in Solo und Tutti auflöst.

In der zweiten Hälfte folgte mit Heitor Villa-Lobos’ Tondichtung „Uirapurú“ der bravste Beitrag des Abends. Interessant ist daran gleichwohl, dass Villa-Lobos in seinem Schaffen anscheinend getrickst hat, um es als eine von der europäischen Avantgarde unberührte, komplett eigenständige brasilianische Moderne zu verkaufen. Dabei ging er so weit, dass er seine Kompositionen vordatierte, um zu kaschieren, dass er sehr wohl Kollegen wie Igor Strawinsky kannte. „Uirapurú“ ist denn auch thematisch an Strawinskys Ballett „Der Feuervogel“ angelehnt. Farbenprächtig ist Villa-Lobos’ Tondichtung allemal. Die vorgesehenen Violinophone, Geigen mit zusätzlichem Schalltrichter wie bei Blechbläsern, waren jedoch nicht zu sehen.

Abwechslung beim Musikfest: das São Paulo Symphony Orchestra Foto: Mario Daloia

Unversöhnlich schroff bis heute das zum Abschluss aufgeführte „Amériques“ von Varèse, ein Klotz voller scheinbar unverbundener Gesten, gern mit vollem Orchestereinsatz, 120 Instrumentalisten sind gefragt, davon allein 15 Schlagzeuger. Das ist oft laut, tut gern weh und scheppert. „Nimm das, übersättigtes Bildungsbürgertum“, könnte man als Botschaft heraushören. Mehr als anti ist diese Form von „organisierten Klängen“, wie Varèse Musik definierte, eine heftige Erfahrung. Expressiv? Vielleicht. Das gehört zum Reiz. Frenetischer, stehender Applaus.

Nicht minder euphorisch wurde die São Paulo Big Band unter Daniel D’Alcântarain in der Philharmonie begrüßt und verabschiedet. Die Arrangements von Klassikern der Música Popular Brasiliera, darunter „Garota de Ipanema“ von Antônio Carlos Jobim und Vinicius de Moraes und Jorge Ben Jors „Mas Que Nada“, beide elegant vorgetragen von der brasilianischen Sängerin und Komponistin Paula Lima, gaben den 13 Bläsern viel Gelegenheit zum Strahlen. Darüber drang die Rhythmusgruppe manchmal nicht ganz durch. Die polyrhythmische Finesse hätte man bei ausgewogenerem Ton vielleicht noch besser herausgehört. Doch das sind Nuancen.

Bis 18. 9., Philharmonie und andere Orte