ortsgespräch
: Propalästinensischer Protest: In Berlin wird wenig auf Polizeigewalt geschaut

Fast niemand schaut noch hin, wenn in Berlin gegen den Krieg in Gaza protestiert wird. Umso überraschender ist, dass es nach der jüngsten propalästinensischen Demonstration vergangene Woche nicht nur Empörung über Ausschreitungen und „Hamas“-Rufe gibt, sondern auch über heftige Polizeigewalt.

Der Auslöser sind Videos, die während und nach der vorzeitig beendeten Demo aufgenommen wurden. Sie zeigen etwa, wie ein Polizist eine Frau unvermittelt von hinten zu Boden stößt, wie ein anderer Beamter einem am Boden fixierten Jugendlichen mehrere Faustschläge in die Seite verpasst oder wie ein weiterer Polizist eine kniende Person würgt und anherrscht, sie solle „aufhören zu schauspielern“.

Dass linke und nicht staatstragende Demos von Polizeigewalt betroffen sind – das ist nichts Neues. Neu ist aber die Gleichgültigkeit, mit der das Woche für Woche in Berlin aufgenommen wird. Beinahe jeden Samstag zieht ein propalästinensischer Protestmarsch durch einen anderen Bezirk Berlins. Und fast jedes Mal geht die Polizei rein und nimmt gewaltsam Leute fest. Videos von den Zugriffen kursieren im Netz, die Betroffenen werden in Rugby-Manier umgetackelt, kassieren Kopfnüsse mit Polizeihelmen, Tritte, Schläge.

Doch die Öffentlichkeit, und da ist das linke Spektrum mitgemeint, quittiert diese Dokumente von staatlicher Gewalt – die sich oft auch noch gegen eine von Rassismus betroffene Minderheit richtet – mit einem teilnahmslosen Schulterzucken. Es folgt der reflexhafte Fingerzeig auf fragwürdige bis strafbare Zwischenfälle bei diesen Demos nach dem Motto: Selbst schuld, die haben es provoziert und deshalb nicht anders verdient. Statt den Opfern von Polizeigewalt Solidarität und Empathie entgegenzubringen, werden sie unter Generalverdacht gestellt, pauschal diffamiert und kriminalisiert.

Oft heißt es dann noch, die Clips seien „aus dem Kontext gerissen“. Aber die abgebildeten Szenen haben mit legitimer Strafverfolgung nichts zu tun. Es sind spontane und brutale Attacken. Auch ohne zu wissen, was davor passiert ist, ist es ein Skandal, wenn arglose oder bereits fixierte Personen zusammengeschlagen werden.

Polizeigewalt gedeiht dort am besten, wo Medien, Po­li­ti­ke­r*in­nen und der Rest der Gesellschaft wegschauen. Und genau das passiert seit Monaten. Fast nie begleiten Abgeordnete als parlamentarische Be­ob­ach­te­r*in­nen die Demos. Lokale und überregionale Medien schicken nur noch selten Reporter*innen. Wenige bis keine professionelle Pres­se­fo­to­gra­f*in­nen dokumentieren die Demos. Und so sind es am Ende oft tendenziöse Videos eines Bild-Reporters, die die öffentliche Wahrnehmung prägen, gemeinsam mit Nachrichtenagenturen, die Polizeimeldungen abschreiben.

Diese Ignoranz führt zur Normalisierung und Verharmlosung staatlicher Gewalt – und in der Folge zu erneuten und womöglich noch hemmungsloseren Exzessen. Es sind die Ak­ti­vis­t*in­nen selbst, die inzwischen mit eigenen Doku-Teams die Übergriffe der Polizei auf den Demos festhalten. Ohne diese Arbeit wären auch die gewalttätigen Festnahmen vergangene Woche wohl unbeachtet geblieben. Auf deren Basis läuft nun auch ein Ermittlungsverfahren gegen einen Polizisten – mit mäßigen Aussichten auf Erfolg, wie die Erfahrung lehrt.

Trotzdem ist es ein beachtliches Ergebnis. Es zeigt: Wenn hingeschaut, berichtet und kritisiert wird, kann die Polizei nicht einfach machen, was sie will. Dass diese Aufgabe momentan den Betroffenen selbst überlassen wird, ist ein Armutszeugnis. Umso mehr muss ihren Erfahrungsberichten Gehör und Glauben geschenkt werden.

Hanno Fleckenstein