Wann wird Kritik zum Verschwörungsdenken?

Bill Gates, die Reichen, die Regierung oder die Grünen – der Leipziger Soziologe Georg Vobruba hat das Verschwörungsweltbild untersucht, das die Komplexität der Welt auf ein paar Sündenböcke reduziert

Ein Mann protestiert im April 2021 vor dem Berliner Reichstag gegen Corona­maßnahmen Foto: Jochen Eckel/SZ Photo/laif

Interview Peter Unfried

taz: Herr Vobruba, mit der Pandemie, dem zarten Versuch von Klimapolitik und dem Aufstieg des Rechtspopulismus ist auch Verschwörungsdenken in Deutschland sichtbarer geworden. Sie haben dafür die Texte „alternativer“ Medien untersucht. Was ist Ihre zentrale These?

Georg Vobruba: Verschwörungsdenken richtet sich gegen den Grundgedanken der Moderne, dass die Gesellschaft sowohl in ihrer Organisation als auch in ihrer Deutung keine Spitze hat und damit nicht von oben gelenkt und geleitet werden kann. Moderne Gesellschaften entwickeln sich nicht geplant, sondern als unbeabsichtigtes Ergebnis einer großen Menge nicht koordinierten Handelns. Im Verschwörungsweltbild dagegen wird alles, was ökonomisch an Missliebigem passiert, auf den Willen und die Interessen einer kleinen Minderheit oder Elite zurückgeführt.

taz: Ähnlich wie im vormodernen Denken?

Vobruba: Ja, aber anders als bei Gott, Natur, Schicksal ist diese herrschende Spitze – sind die Verschwörer – immer böse. So kann eine Neuerung immer nur eine Verschlechterung sein.

taz: Ist Verschwörungsdenken ein rechtes Weltbild?

Vobruba: Man muss mit der Zuordnung rechts und links ja grundsätzlich sehr vorsichtig sein, bei Verschwörungsweltbildern erst recht. Es lässt sich aber sehr gut zeigen, dass Eckpunkte des Verschwörungsdenkens sehr kompatibel mit rechtem Denken sind und auch mit Antisemitismus.

taz: Wie funktioniert das?

Vobruba: Wenn alles, was passiert, auf eine kleine Minderheit zurückgeführt wird, ist es nur noch ein kleiner Schritt, um auf bekannte Namen und Stereotype zurückgreifen und man hat Rothschild, George Soros, die Ostküste. Es gibt nackten Antisemitismus, der ist aber in den Quellen, die ich kenne, selten offen ausgeführt.

taz: Bei Linken gibt es eine Tendenz, die „Reichen“ als Gruppe und Identität zusammenzufassen, die zum Faschismus neige. Das ist nahe an Verschwörungsdenken, oder?

Vobruba: Die Rede von „den Reichen“ erinnert stark an verschwörungstechnisches Wording, muss es aber deswegen noch nicht sein. Sicher gibt es unter Reichen auch Nichtsnutze jeden Geschlechts, denen man das zutrauen kann. Aber natürlich nicht allen. Generell geht es im Verschwörungsdenken um „die Reichen“ als Chiffre für Kapitalismus oder für das Kapital, was auch immer das sein mag. In manchen Fällen scheint es mir eher moralische Entrüstung zu sein über Leute, die über sich die Kontrolle verloren haben.

taz: Bringen solche Entrüstungen etwas oder entsteht der Eindruck, dass wir überall von Nazis umgeben sind?

Vobruba: Wenn es einen solchen Eindruck verfestigen sollte, dass wir überall von Nazis umgeben sind, wäre es grob schädlich. Das sind wir nämlich nicht. Genau das wäre Verschwörungsdenken. Aufregen kann man sich aber schon darüber. Es folgt halt nur nicht viel daraus.

taz: Warum brauchen Leute in dieser Zeit ein Verschwörungsweltbild, etwa von einem freiheitsraubenden Staat, der sie mit erfundener Erderhitzung und Pandemiepolitik unterjochen, krank machen oder gar durch Impfen töten will?

Vobruba: Menschen, die im Verschwörungsweltbild gefangen sind, halten Ambivalenzen nicht aus. Es wird immer das Schlimmste angenommen. Mittlerweile weiß man, dass manche Freiheitseinschränkungen während der Pandemie übertrieben waren. Aber man weiß nicht, wie es gewesen wäre und wie viele gestorben wären ohne Freiheitseinschränkungen wie Distanzregeln. Präventionspolitik ist aber genau der Punkt, den die Verschwörungsdenkerinnen und -denker nicht verstehen können oder wollen.

taz: Wir Linken haben früher auch immer das Schlimmste angenommen, Atomstaat und so weiter.

Vobruba: Ich nicht.

taz: Dann waren Sie eben kein Linker.

Vobruba: Das bestreite ich. Aber es zeichnet komplexe, moderne Gesellschaften aus, dass sie zweifellos von Menschen geschaffen werden, doch dass am Ende etwas anderes herauskommt, als diese wollen. Das kann auch gute Ergebnisse bedeuten, selbst wenn die Intentionen übel waren. Das gibt es auch.

taz: Ich will darauf hinaus, dass es zu einfach wäre, Verschwörungsweltbilder auf eine Gruppe durchgeknallter sogenannter Querdenker zu reduzieren.

Vobruba: Nie im Leben sollte man so denken, schon deshalb nicht, weil die Analyse des Verschwörungsweltbildes einen nicht unerheblichen Aspekt von Selbstaufklärung hat. Erstens: welche Essentials des modernen Denkens wirklich wichtig sind.

taz: Welche sind das?

Vobruba: Die, die von diesem Verschwörungsweltbild angegriffen werden. Zweitens gehört es zur Selbstaufklärung, dass es in der Denktradition der Linken zumindest Strömungen gegeben hat, die dem Verschwörungsdenken verwandt sind. Der stalinistische und auch der sogenannte strukturalistische Marxismus etwa. Drittens gibt es auch Schnittmengen zwischen der Soziologie und dem Verschwörungsdenken, das hat erheblichen Aufklärungswert für das Fach. Und zwar überall dort, wo sie Handeln a priori festlegt, also deterministisch denkt.

taz: Freiheit beziehungsweise Freiheitsberaubung spielt eine große Rolle in diesen Weltbildern.

Vobruba: Ja, dem Verschwörungsdenken liegt meist ein rechts-anarchistischer Freiheitsbegriff zugrunde, der sich in erster Linie durch Staatsfeindschaft auszeichnet und sich reduzieren lässt auf den Satz: Freiheit ist das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung eines amerikanischen Farmers, der Haus und Felder mit dem Gewehr verteidigt. Soziale Sicherheit, die Freiheiten ermöglicht, gibt es in diesem Weltbild nicht.

taz: Wer sind die Sündenböcke, die man als böse Elite fantasiert, die alles für sich und gegen das brave Volk bestimmen?

Vobruba: Der prominenteste Sündenbock ist Bill Gates – und die Leute des World Economic Forum, interpretiert als Clique. Generell kann man sagen: Die Sündenböcke müssen einigermaßen bekannt sein, müssen reich sein und in den Mainstreammedien, wie die Verschwörungsliteratur sie nennt, vorkommen.

taz: Wie werden die Informationen aus Massenmedien zu Verschwörung verarbeitet?

Vobruba: Die Fakten werden einfach umgedreht. Der Direktor von Frontex sagt, es sei unmöglich, Grenzen absolut dicht zu machen. Daraus wird die Nachricht gemacht, er habe gesagt, er habe die Absicht, Grenzen zu öffnen. Oder die Weltgesundheitsorganisation WHO macht eine Kampagne für gesünderes Essen. Verbreitet wird die Nachricht, die WHO habe zugegeben, dass sie die Menschheit ausrotten will.

taz: Wie haben es die Grünen geschafft, in populistischen Erzählungen auch zu Superschurken des Verschwörungsweltbildes aufzusteigen?

Vobruba: Sie sind nicht aufgestiegen, aber sie werden eingebaut. Das absolutistische Weltbild mit einer Spitze hat verschiedene Ebenen. In den wenigsten Fällen manipulieren Bill Gates persönlich oder Rockefeller oder die Rothschilds die ganze Welt. Die haben ihre Marionetten auf mehreren Etagen. Und auf einer unteren Etage kommen die Grünen relativ prominent vor und übrigens auch die Klimakleber, von denen das Verschwörungsdenken herausgefunden haben will, dass sie Agenten des Staates sind.

taz: Um das Volk zu unterdrücken?

Vobruba: Ja, letztlich läuft alles darauf hinaus: Angst verbreiten, leichter regierbar machen, unterdrücken.

Georg Vobruba

Foto: privat

Der Mann: Emeritierter Professor für Soziologie an der Uni Leipzig. Jahrgang 1948. Geboren und auf­gewachsen in Wien. Lebt in Leipzig und Wien.

Das Buch: „Das Verschwörungsweltbild. Denken gegen die Moderne“. Verlag Beltz Juventa, 2024.

taz: Es gibt Teile des liberaldemokratischen Spektrums, die sich daran anhängen und erzählen, die Grünen wollten die Wirtschaft zerstören. Ist das auch Verschwörungsdenken?

Vobruba: Na ja, Populismus – egal, von wem er kommt – ist nicht unbedingt Verschwörungsdenken, aber es gibt eine Verwandtschaft. Richtiges Verschwörungsdenken ist, dass zahlreiche Grünen-Politiker, die beim Young Leaders Program des World Econonic Forum waren, von dieser zentralen Spitze geschult wurden, im Interesse der USA die europäischen Wirtschaften und Gesellschaften kaputtzumachen. Das wird in der Verschwörungsliteratur häufig so dargestellt. Von diesem Punkt führt leider ein relativ kurzer Weg zu Gewaltdispositionen. Dafür gibt es zwei Zutaten. Zum einen wird im Verschwörungsdenken immer wieder beschworen, dass es fünf vor zwölf ist und jetzt schnell gehandelt werden muss. Zweitens aber sind die obersten Drahtzieher unerreichbar. Also hält man sich an die untere Ebene, an die man rankommt, etwa im Wahlkampf.

taz: Was ist der Plan im Verschwörungsweltbild, um das Volk zu retten?

Vobruba: Die positive Utopie? Gibt es fast nicht. Aus dem Verschwörungsweltbild ergibt sich Widerstand, Widerstand, Widerstand. Die herrschenden Verhältnisse sind in diesem Denken nicht reformierbar. Wenn positive Veränderung gedacht wird, geht es um ein Neuaufstellen der Gesellschaft von Grund auf. Die parlamentarische Demokratie und das Repräsentationsdenken werden abgelehnt, das wird es da nicht mehr geben. Wie die neue Gesellschaft aussehen soll, wird aber selten ausbuchstabiert, und wenn, sind das meistens merkwürdig schlichte Hippie-Fantasien. Irgendwas Dezentrales, basierend auf Handwerk und Landwirtschaft, mit Basisdemokratie und einem Rat der Weisen, von denen angenommen wird, dass sie altruistisch sind.

taz: Das klingt ja wie eine ökosozialistische antiglobalistische Schrumpfungsfantasie.

Vobruba: Ja, die saugen von überall ein bisschen auf. Der Hauptgedanke ist, dass das Neue eine einfache Gemeinschaft sein muss – das Gegenprogramm zur komplexen Moderne.

taz: Wie kommt man dahin?

Vobruba: Man hat keinerlei Probleme, sich eine Erziehungsdiktatur vorzustellen. Die Menschen müssen erzogen werden, bis man ihnen den Egoismus ausgetrieben hat und sie bereit sind, für die Gemeinschaft tätig zu werden.