Platzangst

Auf dem Hillmannplatz gleich beim Hauptbahnhof in Bremen kreuzen sich die Interessen: Reisende wollen mal durchatmen, Anwohnende schätzen die Ruhe inmitten des Zentrums – und die Drogenszene die vor der Polizei

Nicht die schönste Ecke Bremens, aber eine der um­kämpf­testen: der Hillmannplatz am Hauptbahnhof Foto: Nikolai Wolff/Fotoetage

Aus Bremen Mika Backhaus
und Jan-Paul Koopmann

Bremen. Wer hier morgens mit dem Zug ankommt, stößt gleich vor dem Hauptbahnhof auf Menschen in dreckigen Schlafsäcken – und auf erstaunlich viel Polizei. Zu Stoßzeiten patrouillieren hier seit einer Weile sogenannte Quattro-Streifen: gemischte Teams aus Polizei, Ordnungsdienst, Bahn-Sicherheit und Bundespolizei. Eben haben sie mit blauen Gummihandschuhen einen Schlafsack auf der nahen Grünfläche gelupft – wie um zu sehen, ob die Gestalt darunter noch lebt –, gerade überprüfen sie die Getränkedosen einiger junger Männer auf Alkohol. Während hier heute allerdings nur Energydrinks zu finden sind, hockt sich gerade mal hundert Meter entfernt eine Frau schwer bestimmbaren Alters in einen Hauseingang, um „Stein“ zu rauchen: Crack, für das sie nicht mal zehn Minuten vorher an der Kaffeeschlange des Bahnhofsbäckers mit brüchiger Stimme geschnorrt hat.

Hier, in Sichtweite des Hauptbahnhofs, liegt der Hillmannplatz, der in letzter Zeit zum Gegenstand öffentlicher Debatten über offenen Drogenkonsum wurde – der sich auch wegen der Kontrollen am Bahnhof hierhin verlagert hat.

Der Platz ist eine ruhige Ecke im doppelten Sinn: Kommt man ums Eck, fallen direkt die zahlreichen Bäume und Sitzgelegenheiten auf. Für Autos gibt es an einem Ende des Platzes eine Wendeschleife, ansonsten ist es ein verkehrsberuhigter Ort, der zum Verweilen einladen könnte. An warmen Tagen versprüht er – für Bremer Verhältnisse – fast mediterrane Stimmung, zahlreiche Gastronomiebetriebe und zwei Hotels befinden sich in direkter Nachbarschaft. Auch das beliebte Kommunalkino City46 liegt am Rande des Platzes. Und während sich hier tatsächlich gerade eine Frau mit Rollkoffer zum Durchschnaufen auf eine Bank setzt, gibt es eben auch die andere Form von „Ruhe“. Die vor der Polizei nämlich.

Drogenkonsumierende und Dealer sind fast immer vor Ort, „die jungen Männer lungern herum“, wie manche An­woh­ne­r*in­nen es ausdrücken. Müll und rumliegende Spritzen sind auch ein Thema, es gab teils heftige Schlägereien. Im Polizeijargon ist der Hillmannplatz ein Ort „mit erhöhter Kriminalitätsbelastung“. Vor allem nachts fühlten sich Menschen nicht mehr ­sicher.

Die negativen Nachrichten prägten die Debatten der letzten Monate um den „Angstort“ Hillmannplatz, dessen neues Image ihm inzwischen offenbar bis in die Pfalz vorauseilt. Das sonst jährlich auf dem Platz stattfindende Weinfest im Rahmen der Wein-Sommer-Tour wurde abgesagt. Ein Teil der Winzer wollte nicht mehr, weil die Kundschaft zurückgegangen sei. Das liege vor allem daran, dass die Kundschaft sich unsicher fühlen, berichtet Michael Berger, der Veranstalter des aus der Pfalz kommenden Wein-Sommers. Auch mit Personalmangel hätten sie zu kämpfen. Eigentlich wollen sie ohnehin gern einen zentraleren Ort für ihr Weinfest haben. Man kann den Eindruck gewinnen, die gegenwärtige Debatte um den Platz eröffnet da auch eine neue Verhandlungsbasis gegenüber der Politik.

So oder so: Das Ringen um den öffentlichen Raum kennt jedenfalls mehr Parteien als nur Drogenszene und Anwohnende und Geschäftsinhaber. Die organisierten im vergangenen Jahr privat einen Sicherheitsdienst. Der alteingesessene Wurstbudenbetrieb Kiefert schloss dieses Jahr seinen letzten Verkaufsstand zwischen Hauptbahnhof und Hillmannplatz. Gegenüber dem Weser Kurier berichteten die Inhaber, dass das an den Zuständen in der Bahnhofsgegend gelegen habe. Die offene Drogenszene sowie Schmutz und Kriminalität seien zunehmend auch für die Mitarbeitenden zur Belastung geworden.

Vergangene Woche debattierte auch die Bremer Bürgerschaft, das Landesparlament, über den Platz. Und während seitens der CDU die rot-grün-rote Landesregierung beschuldigt wurde, sich das Problem über die im Bundesvergleich hohe Aufnahme unbegleiteter minderjähriger Ausländer „selbst eingebrockt“ zu haben, hält die Linke das für „gefährlichen Populismus“. Und die Grünen ergänzen, man schaffe eben „keine No-go-Areas“ – und müsse Leute wieder auf den Platz holen, statt die anderen zu vertreiben.

Tatsächlich gibt es das auch schon: den sozusagen gewaltfreien Kampf um den öffentlichen Raum. „Tatkraft Hillmannplatz“ ist ein Projekt, in dem verschiedene Ak­teu­r*in­nen aus Kultur und Politik in den kommenden Monaten ein vielfältiges Programm auf dem Platz präsentieren.

Was das heißen soll, wurde den An­rai­ne­r*in­nen vergangene Woche bei einem Kennenlerntreffen erklärt. Und hier und da vielleicht auch übersteigerte Erwartungen entschärft: Dass Kulturschaffende nicht im Alleingang Sicherheits- und Drogenprobleme lösen könnten, erklärte „StadtNeudenken“-Organisatorin Susanne von Essen gleich zu Beginn, es gehe vor allem darum, den Platz in ein anderes Licht zu rücken. Das meint sie nicht nur metaphorisch, sondern auch wortwörtlich: Lichtinstallationen spielen eine zen­tra­le Rolle bei der Bespielung. Ansonsten soll es zum Beispiel eine Tanzperformance zum Mitmachen geben. Und jenseits von Kunst und Kultur auch einen neuen Polizeistützpunkt im Container, den einige in der Runde zustimmend nickend begrüßen.

Ebenfalls vor Ort ist Holger Tepe vom angrenzenden Kino City46: „Wir möchten den Platz beleben“, sagt er, und zeigen, dass es möglich ist, „tatkräftig zu sein“. Und Carl Zillich vom Projektbüro Innenstadt möchte „durch gute Erfahrungen Bilder schaffen, die das Image verändern“. Kulturveranstaltungen seien sehr wichtig, damit das im Sinne einer Schwarmstrategie „von unten“ aus der Bevölkerung heraus geschehe. Und vielleicht komme dann ja auch das Weinfest wieder.

Jenseits der verstärken Polizeistreifen hat auch der sozusagen gewaltfreie Kampf um den öffentlichen Raum längst begonnen

Und die Drogenszene? Es lässt sich wohl kaum bestreiten, dass manche den „Verdrängten“ nicht unbedingt nachtrauern würde – so hässlich das Wort auch klingen mag.

Renate Heitmann von der Shake­speare Company, die den Platz ebenfalls kulturell bespielt, hat hingegen eher integrative Vorstellungen: Sie fände es gut, wenn sich ein Neben­ein­ander von Kultur und Szene ergebe. Und damit ist sie nicht allein. Houman Hadavi ist Gastronom am Platz und hat kein Problem mit Konsumierenden, die hier in der Ecke säßen und ihr Ding machen – sehr wohl aber mit den Dealern, die, wie er sagt, aggressiv seien und Druck auf Pas­san­t*in­nen und Kon­su­men­t*in­nen ausüben. Früher habe Hadavi die Drogenkonsumenten mit Resten aus dem Restaurant versorgt, aber inzwischen scheint er mit seiner Geduld am Ende.

Was in den Unterhaltungen mit verschiedenen Gesprächspartnern deutlich wird: Ja, der Platz ist zurzeit kein angenehmer Ort, vor allem nachts. Über das Kulturprogramm freuen sich die meisten deshalb. Aber dass das die Probleme des Drogenkonsums und Kriminalität über den Hillmannplatz hinaus löst, daran gibt es große Zweifel.

Und was die Probleme nicht des Platzes, sondern der Menschen angeht: Die werden durch Verdrängung in vielen Fällen verschärft. Beatrix Meier von der ambulanten Suchthilfe Bremen etwa empfindet die Zusammenarbeit der verschiedenen Ak­teu­r*in­nen bei der Drogenthematik zwar größtenteils als konstruktiv, aber man müsse aufpassen, nicht alles über „Ordnung regeln zu wollen“. Die mit den Kontrollen einhergehende Verdrängung in andere Gebiete mache ihre Arbeit schwieriger, weil sich die Orte des Konsums ständig verlagern. Auch könnte nicht überall ein weitreichendes Angebot vorgehalten werden. Es brauche aber niedrigschwellige Angebote in den Stadtteilen, wie es sie früher mal gegeben habe.

Auch eine Konfliktpartei: Geschäfte am Hillmannplatz Foto: Nikolai Wolff/Fotoetage

Die Pläne für ein schon lange gefordertes zentrales Koordinierungszentrum begrüßt sie hingegen. Das soll nicht weit vom Hauptbahnhof entstehen, wo sich schon jetzt eine sogenannte Toleranzfläche zum Drogenkonsum befindet. Hier kommen immer wieder auch Street­wor­ke­r*in­nen vorbei, die viel lieber aber eine feste, betreute 24-Stunden-Anlaufstelle hätten. Wolfgang Adlhoch arbeitet bei der ambulanten Drogenhilfe „Comeback“ und beschreibt die Dramatik der Situation: „Viele der Konsumenten sind die ganze Nacht unterwegs, weil sie Angst haben, im Schlaf ausgeraubt zu werden“, sagt er, „und wenn sie dann morgens wieder zu uns kommen, schlafen sie erst mal – die sind völlig fertig.“

In das Kontakt- und Beratungszen­trum kommen mehr als 100 Leute täglich. Allgemein sei Bremen im Bereich der Sucht und Drogenhilfe theoretisch ganz gut aufgestellt, findet Adlhoch. Die Angebote seien sehr niedrigschwellig, man könne praktisch alles ohne Papiere machen. Wenn es allerdings um Wartezeiten und verfügbare Plätze gehe, sehe das schon anders aus. Auch ein Problem des Stadtstaats: „Viele Menschen kommen aus Niedersachsen, wollen dann hier in eine Notunterkunft. Aber die sind voll, und Bremen will nicht dafür bezahlen, wenn sie herausfinden, dass sie aus Niedersachsen kommen.“ Auch auf einen Entgiftungstermin könne man schon mal zweieinhalb Monate warten.

Und neue Drogen auf dem Markt verschlimmern die Situation. Crack und Fentanyl sind ein anderes Kaliber als selbst schwerer Alkoholmissbrauch oder Heroinkonsum. In Bremen sind die Substanzen noch verhältnismäßig neu. Es gibt viel Wettbewerb, günstige Preise und viel Druck unter den Dealern. Das Angebot ist groß.

Und es fehlen die Erfahrungswerte in der Szene: Eine kleine Dosis Fentanyl ist um ein vielfaches stärker als eine viel größere Menge Heroin. Diese Entwicklung macht auch alteingesessenen Profis in den Beratungsstrukturen Angst. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Toten in Deutschland im Zusammenhang mit dem Konsum illegaler Drogen mehr als verdoppelt, auf fast 2.227. In Bremen waren es im vergangen Jahr 27.

Miteinander reden: Anwohnende treffen auf Ver­tre­te­r*in­nen aus Kultur und Politik Foto: Nikolai Wolff/Fotoetage

Wolfgang Adlhoch sagt, die Szene der Kon­su­men­t*in­nen und Dealer ist anders und viel größer als noch vor einigen Jahren. Die Toleranz nehme auch in einer Stadt wie Bremen ab, deren liberales Bürgertum die Nöte der Konsumenten oft wahrgenommen und auch verstanden habe. Die Vertreibung am Hauptbahnhof sei kaum auf gesellschaftlichen Widerstand getroffen.

Die eine Lösung für ein so umfassendes gesellschaftliches Problem kann kein Akteur liefern, schon gar nicht allein. Das gilt auch für den Hillmannplatz. Die Kulturveranstaltung und mehr Polizeipräsenz werden vielleicht zu einer Aufwertung des Platzes führen. Aber die Folgen sind schon jetzt am anderen Ende der Stadt zu sehen. Ein neuer dezentraler Container für Menschen in prekären Lebenslagen auf der anderen Weserseite war von dem örtlichen Beirat sogar unterstützt worden: In der Neustadt mit größtenteils links-grünen Wäh­le­r*in­nen gehört es für viele Menschen zum Selbstverständnis, Notleidenden zu helfen. SPD, Grüne und Linke kamen hier bei der letzten Wahl auf zwei Drittel aller Stimmen.

Aber auch dort werden inzwischen die Beschwerden lauter über Müll auf Spielplätzen, Crackpfeifen auf Parkbänken und herumliegende Spritzen.

Über Drogenpolitik im Allgemeinen und die Bremer Situation im Speziellen diskutiert die taz in Bremen mit Betroffenen, Ver­tre­te­r*in­nen aus Betreuungsinstitutionen und Politik. Der taz.salon Drogenpolitik unter der Moderation von Franziska Betz findet statt am Dienstag, 28. 8., ab 19 Uhr im Kulturzentrum Lagerhaus. Anmeldung über www.taz.de/!vn6027806/