Der Mühe wert ist es zu leben

Lyriker, Partisan, Überlebender: Die Edition „Vierkantige Lettern“ würdigt den Dichter Abraham Sutzkever und seine jiddischen Gedichte aus sechs Jahrzehnten

Jüdisches Viertel in Vilnius, Litauen. Ruine der Konfek­teria (1996) Foto: Henning Langenheim/akg-images

Von Wilfried Weinke

Ein Jahr vor seinem Tod am 20. Januar 2010 erschienen gleich drei Bücher, die Abraham Sutzkever als Chronisten seiner Zeit und bedeutenden Poeten jiddischer Sprache einer deutschsprachigen Öffentlichkeit vorstellten. Dem Zürcher Ammann Verlag kam dabei das Verdienst zu, in einem zweibändigen Schuber Sutzkevers Bericht „Wilner Getto 1941–1944“ sowie eine Auswahl seiner Gedichte unter dem Titel „Gesänge vom Meer des Todes“ zu veröffentlichen. „Geh über Wörter wie über ein Minenfeld“ lautete die Auswahl von Lyrik und Prosa, die im Campus Verlag erschien. Gleichwohl blieb der nicht nur in Israel geachtete und geehrte Dichter in Deutschland weitestgehend unbekannt. Die nun von dem Germanisten, Hörspielautor und Übersetzer Kurt Kreiler herausgegebene Gedichtedition will dies ändern.

Abraham Sutzkever wurde am 15. Juli 1913 im russischen Smorgon, einer südöstlich von Wilna gelegenen Industriestadt, geboren. Noch während des ­Ersten Weltkrieges musste die Familie ihre Heimat verlassen; sie ließ sich in Omsk, Sibirien, nieder. Sein Gedichtzyklus ­„ssibir“, der seine Erinnerungen an Sibirien thematisiert, erschien erst 1953 in Jerusalem. Einige dieser Gedichte wie „Wie ein Schlitten, wehmütig klingend“, „Irtysch“, „Mein kleiner Freund Tschanguri“ und „An den Vater“ präsentiert Kreiler in seiner Anthologie. Nach dem frühen Tod des Vaters zog Sutzkevers Mutter mit ihren drei Kindern ins litauische Wilna. Die Stadt mit ihrem hohen jüdischen ­Bevölkerungsanteil galt als Jerusholajim d’Lite, als Jerusalem von Litauen, und war ein Zentrum jüdischer Forschung und Gelehrsamkeit. Am in Wilna ansässigen YIVO, dem Jiddischen Wissenschaftlichen Institut, studierte Sutzkever ­jiddische Literatur und Dichtung. Hier lernte er auch seine spätere Frau Frejdke kennen. Mitte der 30er Jahre wurde er Mitglied der Dichter- und Künstlergruppe Jung Wilne. Dank der Vermittlung des Schriftstellers Joseph Roth erschien 1937 in Polen, herausgegeben vom Warschauer PEN-Klub, Sutzkevers erste Gedichtsammlung, „Lider“.

Der Beginn des Zweiten Weltkriegs, der Überfall der deutschen Wehrmacht im Juni 1941 auf die Sowjetunion unterbrach die literarische Karriere Sutzkevers. In seinem Bericht über das Wilnaer Getto heißt es eingangs: „…als ich am 22. Juni frühmorgens das Radio anschloß, da sprang es mir entgegen wie ein Knäuel Eidechsen: ein hysterisches Geschrei in deutscher Sprache. Aus all dem Lärm folgerte ich nur: Das deutsche Militär war über unsere Grenzen ins Land gedrungen. Ich lief hin­ab nach draußen; ich geh, wohin die Augen tragen.“

Sutzkevers Augenzeugenschaft schlug sich in seinem erschütternden Bericht über das Wilnaer Getto nieder, wo er mit seiner Mutter und Frau gefangen gehalten wurde. Detailliert beschrieb er den Getto-Alltag, die Unbarmherzigkeit und Bestialität der SS und ihrer litauischen Verbündeten, deren sogenannte Aktionen, in denen bis Ende Dezember 1941 Zehntausende Juden ermordet wurden. In Sutzkevers Gedichten fand die Realität ihren lyrischen Widerhall, so in „Gesichter in Sümpfen“: „… und grau geworden über Nacht sind unsere Gedanken; / Morgensonne streute glühndes Salz in unsre Wunden. / Und weiße Tauben wurden schwarze Eulen: den Traum verlachend, der in Rauch verschwunden. / Was zitterst Du mein Land? Wirst Du wie wir zerschlagen? / Oder wittern deine Nüstern schon die Toten? / Verschling uns, Erde! Falsche Sicherheit hat uns verraten; / verschling uns ganz: unser Geschlecht und seine Fahnen.“

Sutzkevers oftmals genau datierte, in Verstecken geschriebene Gedichte waren Bewältigungsversuche der Drangsalierung und öffentlicher Demütigung („Der Zirkus“), des Abtransports und Ermordung seiner Mutter („Meine Mutter“). An dem Tag, an dem seine Mutter für immer aus seinem Leben gerissen wurde, traf ihn ein weiterer Willkürakt: Sein neugeborenes Kind war, wie es die „Getto-Ordnung“ vorschrieb, noch am Tag der Geburt vergiftet worden. In seinem am 18. Januar 1943 geschriebenen Gedicht „An mein Kind“ schrieb er: „War es Hunger nach Dir /oder so große Liebe- / nur deine Mutter ist Zeugin: ich wollt’dich in mich einschlingen, mein Kind, als ich fühlte, wie dein Körper erkaltet / unter meinen Händen, / als hielte ich / ein Glas warmen Tees / und fühlte ihn kalt werden … /Keine Wiege hat dich erfreut, /deren Wiegen / den Rhythmus der Sterne in sich trägt: / mag die Sonne zersplittern wie Glas, /denn du hast nie ihren Glanz gesehn. / Ein Tropfen Gift hat deinen Glauben zerstört, / Du glaubtest: / es sei warme süße Milch.“

Aus dem schreibenden Partisanen wurde ein Zeuge seiner Zeit

Aus dem Dichter wurde ein Kämpfer, er schloss sich der Fareinikte Partisaner Organisatzije (FPO) an. „Vom Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ gezwungen, wertvolles jüdisches Schriftgut und Kulturschätze zu sichern, die als Raubgut nach Deutschland gebracht werden sollten, schmuggelte er als Mitglied der „Papierbrigade“ Bücher und Manuskripte ins Getto, wo sie versteckt die deutsche Besatzung überdauerten. Kurz vor der Liquidierung des Gettos gelang Sutzkever gemeinsam mit seiner Frau die Flucht zu Partisanen in den litauischen Wäldern. In dem Gedicht „Naroszer Wald“ heißt es: „Mit Wilna im Herzen / fest wie eine Kugel, mit dem Sprengstoff der Verse / in meinem Gewehr / lieg ich im Graben / zu erhorchen, erspüren / schwarze Schritte /zwischen Gras und Strauch. /… ich weiß: / ich bin ein Wolf und ein Dichter in einem / und schick aus dem Gewehr / Vers um Vers.“

Sein im Getto verfasstes Langgedicht „Kol Nidre“ gelangte zu Schriftstellern des Antifaschistischen Komitees in Moskau und in die Hände Ilja Ehrenburgs, der dafür sorgte, dass Sutzkever und seine Frau in die sowjetische Hauptstadt ausgeflogen wurden.

Abraham Sutzkever Foto: Fritz Cohen/CC

Aus dem schreibenden Partisanen wurde ein Zeuge seiner Zeit, de facto im Februar 1946 als Zeuge des sowjetischen Anklägers im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Im selben Jahr erschien in Moskau eine zensierte Ausgabe von Sutzkevers Bericht „fun wilner geto“; doch bot der Zufluchtsort keinen Schutz vor sowjetischem Antisemitismus. Die (Mit-)Arbeit an dem geplanten Schwarzbuch zum Genozid an den sowjetischen Juden musste eingestellt werden. Sutzkever emigrierte 1947 gemeinsam mit seiner Frau nach Palästina, lebte fortan in Tel Aviv, wo er bis ins 82. Lebensjahr unter dem Titel „di goldene kejt“ eine international bedeutsame Zeitschrift für jiddische Kultur herausgab.

Kurt Kreiler kommentiert seine Übertragung von Sutzkevers Gedichten aus dem Jiddischen ins Deutsche so zurückhaltend wie emphatisch. Ihm wie dem Verlag gebühren Respekt und Dank, an diese außergewöhnliche Persönlichkeit zu erinnern. In seinem Gedicht „Der Mühe wert“ resümierte er: „Der Mühe wert, sei’s damals sei es jetzt, ist es zu leben, / auch wenn du nicht genug Brillanten hast, von deiner Schlechtigkeit /dich loszukaufen – und länger Nacht ist als dein Feuer brennt. /Und ist’s der Mühe wert, zu sterben? Nein, lohnender ist Leben.“

Abraham Sutzkever: „Vier­kantige Lettern. Gedichte 1935–1995“. Aus dem Jiddischen von Kurt Kreiler. Verlag Königshausen & Neumann 2024, 316 ­Seiten, 30 Euro