: Hindernisparcours Paris
Am nächsten Mittwoch, den 28. August, starten in der französischen Hauptstadt die Paralympics. Nicht überall scheint die Stadt gut vorbereitet zu sein
Aus Paris Ronny Blaschke
Paris verfügt über eines der ältesten Metronetze der Welt. Einige Linien wurden vor mehr als 120 Jahren eröffnet. An den Stationen führen oft steile Treppen zu den Bahnsteigen. Aufzüge und Rampen gibt es selten. Nur die neue Bahnlinie 14 ist komplett barrierefrei. „Paris ist wie ein Hindernisparcours für behinderte Menschen“, sagt der Rollstuhltennisspieler Serge Mabilly. „Man braucht hier immer einen Plan B.“
Am nächsten Mittwoch beginnen in Paris die 17. Sommer-Paralympics, mit rund 4.400 Sportlern. Traditionell beschleunigen die Weltspiele des Behindertensports in den Gastgeberstädten eine Debatte über Barrierefreiheit und Teilhabe. In Frankreich leben 12 Millionen Menschen mit einer Beeinträchtigung, rund 17 Prozent der Bevölkerung. Was können die Paralympics bewirken?
Serge Mabilly engagiert sich als Vizepräsident des Verbandes APF France Handicap für behinderte Menschen. Er hatte große Hoffnungen mit den Paralympics in der französischen Hauptstadt verbunden. Schließlich stellten die Gastgeber in der Bewerbungsphase Investitionen von 1,5 Milliarden Euro in Aussicht: etwa in Rampen, rollstuhlgerechte Busse und Leitsysteme.
Doch NGOs wie APF France Handicap beschreiben die Umsetzung als langsam und ambitionslos. Einige von ihnen demonstrierten gegen die Gastgeber der Paralympischen Spiele. Und womöglich kann es nun bei den Spielen erneut zu Protesten kommen. „Für manche Strecken, die ohne Rollstuhl zehn Minuten dauern, brauche ich 40 Minuten“, sagt Serge Mabilly. „Oft kann ich dann nicht mal den Bus nutzen. Weil der Bus schon voll ist, nicht richtig parken konnte oder die Einstiegsrampe kaputt ist. Wir müssen jede Fahrt genau planen.“
Es ist wohl unmöglich, die historische Metro komplett barrierefrei umzubauen. Die Organisatoren stellen aber mehr behindertengerechte Busse und Taxis in Aussicht. Auf den Bürgersteigen sollen Schlaglöcher und hohe Bordsteinkanten beseitigt werden. Bei den Paralympics sollen Shuttlebusse an den großen Bahnhöfen bereitstehen, eine Fahrt muss aber reserviert werden.
Die Athleten sollen von den Problemen wenig mitbekommen. Sie sind im Olympischen Dorf von Saint-Denis untergebracht, wo im Norden von Paris ein neues Quartier entsteht. „Im Dorf hat jedes Apartment barrierefreie Bäder“, erzählt Karl Quade, der Chef de Mission der deutschen Paralympier. „Langfristig können diese Wohnungen dann von behinderten Menschen genutzt werden.“
Darüber hinaus haben die französischen Behörden im Rahmen der Paralympics weitere Maßnahmen angekündigt. So sollen öffentliche Stellen in Paris ihre Angebote für Menschen mit kognitiven Einschränkungen leichter zugänglich machen. Zudem wird das Bildungssystem gestärkt. „Bis 2030 soll in Paris mindestens eine barrierefreie Schule in maximal 15 Minuten erreichbar sein“, sagt Andrew Parsons, Präsident der Internationalen Paralympischen Komitees (IPC). „Wir wollen beweisen, dass die Paralympics eine Stadt positiv prägen können.“
Doch es hat Jahrzehnte gedauert, bis die Spiele diese Stellung erreichten. 1996 zum Beispiel ließen die Organisatoren nach Olympia in Atlanta etliche Sportstätten abbauen, so dass die Paralympics zum Teil in Ruinen stattfinden mussten. 2008 in Peking wurden bei den Paralympics zum ersten Mal überhaupt behinderte Menschen im Fernsehen gezeigt, doch Ausgrenzung erleben diese in China bis heute. Immerhin: Nach den Spielen in London 2012 haben laut einer Studie ein Drittel der Briten ihre Einstellung zu Behinderungen geändert.
Vor den Sommerspielen in Rio 2016 erarbeitete die brasilianische Regierung ein Antidiskriminierungsgesetz. Zwei Jahre später war in Brasilien die Zahl der Beschäftigten mit einer Behinderung um 50 Prozent höher als 2009, in dem Jahr, als Rio den Zuschlag für die Spiele erhielt. Trotzdem können behinderte Menschen in den Favelas bis heute ihre Wohnungen oft nicht verlassen.
Andrew Parsons vom IPC sagt, dass die Paralympics nur ein Anstoß für eine Entwicklung sein können, die Jahrzehnte dauern kann. Tokio etwa war schon vor den Paralympics 2021 eine Stadt mit eher wenigen Barrieren im Nahverkehr gewesen. Trotzdem sah man selten behinderte Menschen im Stadtbild. „In Japan gab es die Wahrnehmung, dass man sie besonders schützen müsse“, sagt Parsons. „Aber das ist falsch. Behinderte Menschen brauchen Möglichkeiten, um sich zu entfalten. Ich glaube, dass die Paralympics die japanische Gesellschaft verändert haben.“
In Deutschland fanden die Paralympics einmal statt, 1972 in Heidelberg. Die Olympia-Stadt München wollte das Athletendorf nicht umbauen, sondern die Wohnungen früh für zahlende Mieter freigeben. Mehr als 50 Jahre später wollen deutsche Sportverbände erneut eine deutsche Olympia-Bewerbung auf den Weg bringen. Aber wie könnte die Gesellschaft von Paralympics profitieren? Jürgen Dusel, der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, nennt Sportstätten, Schwimmhallen und Schulen, die in Deutschland vielfach nicht barrierefrei sind: „Und in vielen Städten mangelt es auch an barrierefreien Hotelzimmern.“
Realistisch sind Olympische und damit auch Paralympische Spiele in Deutschland frühestens 2040. Doch auch in der Bewerbungsphase könnten Themen in den Fokus rücken: fehlende Lehrkräfte oder die teils mangelnde Zusammenarbeit zwischen olympischen und paralympischen Vereinen. Jürgen Dusel möchte zudem über den Leistungssport hinausblicken: „Menschen mit Behinderungen treiben deutlich weniger Sport als Menschen ohne Behinderungen. Und während der Pandemie haben viele Rehasportvereine Mitglieder verloren.“ Die Paralympics könnten auch in Deutschland eine wichtige Debatte anstoßen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen